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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Autoren: Christopher Coake
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Angst.

III. DER GLüCKLICHSTE MENSCH
     
    Albert ist neunundsiebzig, und er stirbt.
    Vor einem Monat ist bei ihm Krebs diagnostiziert worden, und nach ausführlicher Beratung mit seinen Ärzten hat er sich gegen eine Behandlung entschieden. Das, so scheint ihm, ist der richtige Weg, die einzige Möglichkeit. Er hat fortgeschrittenen Darmkrebs, und Behandlung hieße Chemotherapie, Operationen und künstlicher Ausgang. Diese Anstrengungen könnten sein Leben verlängern, aber retten – daran hat niemand irgendeinen Zweifel gelassen -, retten werden sie es auf keinen Fall.
    Sein Onkologe redet langsam mit ihm, mit viel Blickkontakt, vielen Schlagworten wie Lebensqualität und schwere Entscheidungen. Aber Albert fallen die Entscheidungen keineswegs schwer. Wenn man einmal so alt ist wie er, ist es früher oder später eben vorbei. Schließlich ist nicht einmal gesagt, dass er die Operation überlebt, und die Chemotherapie, das betonen alle, schlägt auf Herz und Leber; an der Behandlung kann er genauso krepieren wie an seinem Krebs. Er würde Höllenqualen leiden – ein Jahr? Anderthalb? Seine Frau, Elise, müsste hilflos zuschauen. Albert weiß, wenn er ein jüngerer Mann wäre, ließen sich mehr Kräfte zu seiner Verteidigung mobilisieren, aber er ist nicht jung. Man mag es Krebs nennen, aber im Grunde stirbt er ganz einfach am Alter.
    So sieht also Albert – dessen unverwüstliche Gesundheit schon Anlass zu manchem Witz gegeben hat – nun seinem Ende ins Auge. Es ist aus mit ihm, und zwar bald – ein Monat, sagen sie, höchstens zwei. Er wird Schmerzmittel bekommen und, wenn die Schmerzen zu stark werden, eine Epiduralanästhesie, wie Frauen bei der Entbindung.
    Ich will Ihnen nichts vormachen, sagt der Onkologe, als Albert ihm seine Entscheidung mitteilt. Es ist kein erfreuliches Thema, aber ich bin der Meinung, Sie sollten wissen, was auf Sie zukommt.
    Hier sieht der Onkologe sie beide an, Albert und Elise – Elise, die sich kerzengerade hinsetzt und Alberts arthritisches Knie mit so eisernem Griff umklammert, dass er das Gesicht verzieht.
    Der Onkologe sagt: Es ist ein unschöner Tod, Albert. Ihr Zustand wird sich laufend verschlimmern. Es kann uns gelingen, die Schmerzen aufzufangen, wenn Sie mithelfen, aber die Methoden, die wir einsetzen, werden Ihre Denk- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigen, und sie werden Ihr Handlungsvermögen einschränken. Wir reden hier von schwersten Betäubungsmitteln. Wenn Sie etwas aus unserem heutigen Gespräch mitnehmen, dann dies: Richten Sie es so ein, dass Sie die Menschen, die Sie sehen möchten, bald sehen. Nehmen Sie Abschied, solange Sie es können. Wenn noch Dokumente zu unterzeichnen sind, warten Sie nicht damit. Der Verfall schreitet rapider fort, als Sie es sich vorstellen können. Es tut mir leid – aber das muss gesagt werden, und Sie müssen sich so schnell wie nur möglich damit arrangieren.
    Albert ist bereits auf Kodein gesetzt – an den meisten Tagen meint er, ein lebendes Tier im Bauch zu haben -, aber bevor er und Elise gehen, schiebt der Onkologe ihm ein Rezept für Morphiumtabletten hin. Für den Anfang, sagt er. Er sieht Albert an, die Augenbrauen hochgezogen, und sagt leise: Folgen Sie den Anweisungen auf dem Etikett. Mit dem Zeug ist nicht zu spaßen. Verstehen Sie mich?
    Sein Ton kommt Albert herablassend vor, aber als er heimfährt – Elise kann nicht fahren, sie sitzt neben ihm, lauthals schluchzend -, begreift er, was der Arzt ihm sagen wollte.
    Die nächsten zwei Tage, während er im Arbeitszimmer seine Unterlagen durchgeht, wie der Arzt ihm geraten hat, behält er die Flasche mit den Morphiumtabletten in Reichweite. Manchmal lehnt er sich in seinem Armstuhl zurück und dreht sie in den Fingern. Es gibt nicht viel zu überlegen, nicht viel abzuwägen, aber dennoch spielt er die Möglichkeiten im Kopf ein bisschen durch und fällt dann seinen Entschluss.
    Er hat Elise in seinem ganzen Leben nichts verheimlicht, und er kann es auch jetzt nicht.
    Ich habe eine Wahl treffen müssen, sagt er, an der Küchentür stehend. Und ich will dir sagen, wie ich mich entschieden habe. Du musst jetzt bitte stark sein.
    Elise, die ihm eine Kartoffelsuppe kocht, hört auf zu rühren. Das Telefon klingelt, und sie schweigen, bis der Anrufbeantworter anspringt. Das verfluchte Ding klingelt den ganzen Tag, seit die Sache offiziell ist. Solange es klingelt, schauen sie sich an, und als sie fertig sind, kann Albert ihr ansehen, dass sie weiß, was er ihr sagen
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