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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Autoren: Christopher Coake
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Kehle – Teile des Gesichts, ein starres Auge, weiß und blau mit einer Blüte aus tiefem Rot, sieht, dass der Kopf auf einer Seite eingedrückt ist, in sich zusammengesackt wie ein undichter Wasserball.
    Jetzt ist der Schrei da. Nat setzt sich hin, setzt sich schwer ins feuchte Gras, und sie braucht einen Moment, um zu begreifen, dass sie noch keinen Ton von sich gegeben hat, dass die Schreie, die sie hört, von oben kommen, von der Straße – eine Frau, natürlich ist es eine Frau, die da schreit, außer sich, stoßweise, wütend: Laute des Verlusts, zu einem Namen geformt.
    Nat unterdrückt ihren Schrei. Er zählt nicht. Nur ein Schreien zählt, darf etwas zählen, und sie lauscht, wie es anschwillt und abschwillt, dieses Schreien, das nur das der Mutter sein kann.
     
    Eine ganze Woche vergeht, ohne dass Nat und Joan über den Unfall an der Brücke sprechen.
    Was heißt, dass sie auch nicht über das Kind sprechen, das sie miteinander haben wollten. Nat kann Joan ansehen, dass sie es möchte; Joan sucht ihren Blick, wann immer sie kann, und Nat weiß, dass sie ihre Fragen nur mit Mühe zurückhält – Joans Art ist es, nicht lange zu fackeln, die Dinge direkt anzugehen. Und Nat weiß auch, dass Joan leidet, um ihret willen leidet, weil ihr klar ist, dass es keine Worte gibt, die die Sache wieder ins Lot bringen. Natalie würde es ihr gern leichter machen, die Spannung auflockern, aber sie weiß nicht, wie. Beim Gedanken an das tote Kind – oder das Kind, das sie bekommen könnte – wird ihr übel. Der Kopf tut ihr weh.
    Zu ihrer eigenen Überraschung redet sie stattdessen mit Gott.
    Sie sieht das nicht als Beten. Gebete sind ihr suspekt – als sie jünger war und noch richtig an Gott glaubte, erschien ihr Beten immer als Maßlosigkeit, als ein Betteln um Dinge, die sie nicht haben kann. Damals hat sie sich ermahnt, nicht so undankbar zu sein – sich gesagt, wenn sie Gott wäre, dann würde sie sich überfordert und vielleicht sogar erzürnt fühlen von den Millionen von Bitten, die die Welt himmelwärts schickt.
    Doch selbst wenn sie beten könnte: Sie wüsste nicht, worum. Nat ist sich ja kaum ihrer Fragen sicher. Aber Antworten darauf braucht sie dennoch, und sie weiß, dass diese Antworten irgendwo fern von ihr und auch von Joan zu finden sind, und so sendet Nat ihre Stimme empor in den Himmel, den es nicht gibt, zu dem Gott, an den sie nicht – oder nicht wirklich – glaubt.
    Ihr geht es nicht um die ganz große Frage – warum ein Kind sterben muss -, sondern um die persönliche: Warum ist das ihnen passiert, Nat und Joan, just an dem Tag, an dem Nats Wunsch nach einem Kind erhört worden ist? (Und wenn sie ehrlich ist: War dieses Kind in ihren sehnlichsten Träumen nicht immer ein Mädchen?) Warum musste von all den Leuten unter der Brücke ausgerechnet Nat diejenige sein, die das Mädchen hat sterben sehen? Warum musste gerade sie zu dem Mädchen hingehen und sehen, wie der Tod ihm mitgespielt hat?
    Denn diese Ereignisse, in ihrer Gesamtheit betrachtet, scheinen viel zu … ja, zu bedeutsam. Zu zeichenhaft. Anfangs ist es nur ein Sichfragen – aber dann wird ein Fragen, ein Bitten daraus. Sie will keinen Gnadenerweis. Nur eine Erklärung der Zeichen. Soll es eine Warnung an sie sein, kein Kind in die Welt zu setzen? Oder eine Aufforderung, sich zu beeilen? In den Schoß der Kirche zurückzukehren, zu Gott? Sich von ihrer Freundin loszusagen? Jedwede Aussage, jedwede mögliche Antwort erscheint ihr zu komplex, ganz gleich, wie sie sie sich im Kopf zurechtlegt.
    Oder sucht sie in Wahrheit vielleicht etwas viel Einfacheres? Sind ihre vielen Fragen vielleicht eine einzige? Stellt sie am Ende doch die ganz große Frage: Gibt es Dich? Oder gibt es Dich nicht?
    Aber die eine Antwort, die zu ihr dringt, ist immer wieder dieselbe: das Kind, das vom Himmel fällt.
    Zwei Wochen nach dem Unfall überrascht sie sich selbst ein zweites Mal. Spätabends, als sie sich ins Bett gelegt haben, sagt Nat zu Joan: Ich glaube, ich will doch kein Kind.
    Joan stützt sich auf den Ellbogen. Sie redet überstürzt, und Nat weiß, dass sie sich für so etwas zu wappnen versucht hat.
    Das meinst du nicht im Ernst, sagt Joan. Oder?
    Nat kreuzt die Unterarme vor den Knien und sagt: Doch.
    Warum?
    Weil das Kind nur stirbt.
    Das weißt du nicht. So etwas kannst du nicht wissen. Es war ein verrückter Zufall.
    Nein, sagt Nat ruhig. Es wird sterben. Vielleicht mit vier, vielleicht mit neunundsiebzig, vielleicht wird es auch tot
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