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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Autoren: Christopher Coake
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geboren. Aber jedes Kind stirbt.
    Nat sieht den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin. Sie lächelt und streicht Joan über die Wange und sagt dann: Ich weiß, wie das klingt. Wirklich. Aber verstehst du denn nicht? Ein Kind hat keinerlei Wahl. Wir beschließen, es zur Welt zu bringen, und die Welt oder Gott oder wer auch immer verfügt irgendwann, dass seine Zeit um ist, und das Kind wird immer nur mitgeschleift.
    Du machst mir Angst.
    Sie war ein Jahr alt, sagt Nat. Sie hatte noch nicht mal angefangen zu sprechen. Was meinst du, was bei ihrem Tod vorgegangen ist in ihrem Kopf?
    Joan verschränkt die Hände vor dem Mund.
    Nat sagt: Sollte ein Mensch nicht wenigstens imstande sein, einen Gedanken zu fassen, wenn er stirbt?
    Ich weiß nicht. Joan verzieht das Gesicht und greift nach einer Zigarette. Wir sitzen hier und machen uns Gedanken darüber. Findest du, das bringt was?
    Ich finde ganz einfach, dass ich selbstsüchtig war.
    Ein Kind haben wollen ist nichts Selbstsüchtiges.
    Die Welt braucht nicht noch mehr Kinder.
    Schon möglich. Aber wir haben trotzdem das Recht, eins zu bekommen.
    Und Joan fängt zu argumentieren an, führt all die Punkte aus ihren Diskussionen ins Feld, und irgendwo tief im Innern ist Nat stolz auf sie. Weil sie es zumindest versucht – weil sie tut, was sie für das Richtige hält, und Nats eigene Argumente an ihrer statt wiederholt. So dass Natalie die Dinge, die sie selbst vorgebracht hat (weinerlich zum Teil), nun in Joans fester Stimme noch einmal hört: dass sie hervorragende Eltern abgeben werden; dass die Welt – so wie die Welt beschaffen ist, so wie die Welt denkt – das Kind, das sie großziehen werden, dringend braucht. Dass den Missständen in der Welt – alledem, womit sie beide hadern – nur durch Menschen abgeholfen werden kann, die ihre Kinder nicht zum Hass und zur Furcht erziehen.
    Wie kann ich ein Kind dazu erziehen, sich nicht zu fürchten?, fragt Nat. Jedesmal, wenn ich sie ansähe, würde ich vergehen vor Angst. Sie wüsste genau, dass ich lüge.
    Nat knipst das Licht aus. Joan will noch weiterreden, aber Nat sagt, bitte, nicht heute Nacht.
    Joan wartet ein Weilchen, drückt dann ihre Zigarette aus, seufzt und legt sich unter der Decke zurecht.
    Nat war bisher ganz ruhig, aber nun, im Dunkeln, zittern ihre Atemzüge, und sie beginnt zu schluchzen.
    Komm her, Süße, sagt Joan. Und Nat macht, ohne sich umzudrehen, den Rücken rund, und Joan schmiegt sich von hinten an sie und schiebt ihre warme Hand unter Nats Brust. Joan küsst sie auf den Nacken, an den Haaransatz dort. Ihr Atem streicht warm über Nats Hals, ihre Schulterblätter. Ihre Hände sind weich; sie reiben Nats Schultern, den Rücken, gleiten die Kurve der Wirbelsäule entlang.
    Es wird alles gut, sagt Joan. Wir kriegen das hin. Wir lieben uns viel zu sehr, um es nicht hinzukriegen. Das musst du glauben!
    Nat schließt die Augen. In ihrem Kopf sieht sie das Auto, und in dem Auto das kleine Mädchen und seine Mutter. In den Zeitungen stand, dass sie auch zum Park unterwegs waren, dass sie nur bis zur nächsten Ausfahrt wollten. (Wäre alles gut gegangen, dann wären Nat und Joan vielleicht an der Mutter und dem Mädchen im Kinderwagen vorbeigejoggt, und das Mädchen hätte sie mit runden Augen angeguckt, und Nat hätte ihm zugewinkt, und es hätte gelacht.) Die Mutter hatte das Mädchen aus dem Kindersitz geholt und auf den Schoß genommen, weil es nicht aufhören wollte zu jammern. Dumm – unverantwortlich -, aber für die Mutter war es vielleicht erträglicher, das Mädchen auf ihrem Schoß zu wissen, als dieses Weinen im Ohr zu haben, zuzulassen, dass ihre Tochter so unglücklich war. Zeitungen und Fernsehen sind hart mit der Mutter ins Gericht gegangen, aber wie hätte die Mutter ahnen sollen, was dann geschah?
    Natalie hofft, dass er aufgegangen ist, der Plan der Mutter. Sie hofft, dass das kleine Mädchen geschlafen hat, als die Autos vor ihnen plötzlich bremsten und sich querstellten und ineinanderkrachten.
    Oder besser noch: Natalie hofft, dass das Mädchen wach war, dass es gelacht und seine Mutter angeschaut hat. Sie hofft, dass die letzten Gedanken des Mädchens gar keine Gedanken waren, sondern Gefühle: dieses wortlose Aufwallen, das ein Kind spüren muss, wenn es in das liebste Gesicht von allen blickt und darin nichts als Gutes sieht; ein Aufwallen vollkommener Zufriedenheit, vollkommener Liebe, ehe der Himmel sich auftat und das Kind emporflog, hinaus in einen Moment vollkommener
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