Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
mit neuer Hingabe über seine dicken Saiten sägte, so, als wollte er zeigen, wie unentbehrlich auch er war. Man hörte ihn deutlich heraus. Von der andern Musik hörte Kilian natürlich nichts mehr; er sah nur, wie die Menschen blasen und geigen, in Sesseln sitzen, lauschen, während sie jeden Augenblick der Tod treffen kann. Für Kilian war es ein wahnwitziger Anblick. All die geigenden Bogen, die auf und nieder gingen, einmal steiler, einmal flacher, alle miteinander, eine Weile rasten sie wie Weberschifflein, und dann, plötzlich, hörten alle auf, die Arme senkten sich aufs Knie, die Bogen ruhten. Vom Orchester, das spürte Kilian bald, kam keiner in Frage; denn jene sah er alle von Angesicht … Indessen verging die Zeit, wie sie das immer tut, und draußen lehnte der Tod an der Türe, wartete wie ein Kutscher … Gerade vor Kilian saß eine Dame, ein kostbarer Pelz. Noch ehe er sie zeichnete, wollte es der Zufall, daß sie sich schneuzte; sie nahm ihr Täschlein, einen Augenblick sah man, daß auch sie ein Gesicht hatte. Ein Mann mit Glatze, der in der vordersten Reihe saß, war die Rettung; auf Zehen, rücksichtsvoll, ging Kilian durch den langen und spiegelglatten Gang, klopfe ihm auf die runde Schulter, so, daß er sich erschrocken umdrehte. Verzeihung! sagte Kilian, klopfe einem andern auf die Schulter, das heißt, es war ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, eine Schülerin, die brav und aufmerksam die Noten verfolgte. Verzeihung! sagte er …
    Unterdessen begannen sie den letzten Satz. Kilian fühlte, daß er es nicht über sich bringen würde; ein ganzer Saal voll Leute, er hatte wirklich gedacht, da wirst du schon einen finden, wo du es über dich bringst, und nun war die Flucht seine letzte Hoffnung, Flucht, List oder eine alte Jungfer, die draußen in der Garderobe säße und strickte und gähnte. Kilian stand im Treppenhaus, wo man die Musik schon fast nicht mehr hörte. Eine Jungfer sah er nicht; aber am Geländer lehnte wirklich der Herr mit dem gewöhnlichen Regenmantel, mit dem Halstuch und mit dem alltäglichen Hut, der sein knöchernes Gesicht beschattete, er stützte seine Ellbogen auf das Geländer, blickte aus Langeweile zwischen den Treppen hinab und rauchte, so stand er da und fragte:
    »Wohin willst du?«
    »Ich?« sagte Kilian, »auf die Galerie.« Es nützte ihm nichts, dem listigen Kilian, der wirklich auf die Galerie ging; dann aber war er durch das obere Foyer gelaufen, so schnell er auf den Zehen nur konnte – auch im anderen Treppenhaus lehnte der Herr, wie ein Pendant, und lächelte: »Du kommst also selber?«
    Drinnen konnte nun die schöne Musik jeden Augenblick zu Ende sein, und es blieb Kilian, wie man begreifen mag, nichts anderes übrig: Es mußte vollzogen sein, er hielt seine linke Hand vor die Augen, trat in den erleuchteten Saal und klopfe auf eine Schulter: »Stirb«, sagte er, »ich bitte dich –«
    Als Kilian die eigene Hand wieder von den Augen nahm, waren sie naß, und er sah seinen toten Vater, der allerdings sehr alt war, noch viel älter als Kilian, und es dauerte eine Weile, bis Kilian begriff, was eigentlich geschehen war. »Ich weiß«, sagte der Tote, »ich weiß –« »Was?«
    »Das Kind, in dieser Stunde ist es gekommen,
euer Kind –.«
»Vater«, sagte Kilian –
»Ja, nun bist du es auch,«
    Es mag sein, daß Kilian weinte, obschon er nun sehr glücklich war; er war in die Nacht hinausgegangen, er stapfe durch Wald, und es funkelte von herbstlichen Sternen … Noch lange hielt er es für einen Traum … In Wirklichkeit war es das Kind.

    M anchmal noch schreibe ich an Bin. Nicht immer, wenn etwas geschieht, gibt es Freunde; eine Feder, ein Papier, eine Wirtschaf gibt es fast immer … Die Wirklichkeit?
    Sie begegnete mir eben in der flotten Gestalt eines jungen Offiziers, wie es sie zuzeiten überall gibt. Ich hatte ihr Kommen wirklich nicht bemerkt; ich war also nicht aufgestanden, wie es von einem Soldaten verlangt wird. Ein Blick auf mein Gewand oder auf die Offiziere, die am andern Tische drüben jaßten, oder auch nur auf die Salzstengel, die in einem Glase vor mir standen, und es konnte kein Zweifel mehr sein, wo ich mich befand. In einer halben Stunde fuhr der Zug. Später hatte man mich zum Tisch der jassenden Offiziere gerufen, so daß ich mich erheben mußte, um Stellung anzunehmen, wo es der spärliche Platz zwischen den Tischen erlaubte.
    »Machen Sie«, sagte der junge und durchaus flotte Leutnant, »Ihren obersten Knopf zu.« Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher