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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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an. Dann kauerte er sich in dem Ledersessel zusammen, die Knie an die Brust gezogen, und schaltete den Apparat wieder ein.
    Er sah zwei schwarz gekleidete Männer, mit Kapuzen verhüllt, sich vor Flavio verneigen. Sie richteten sich wieder auf und entfernten das weiße Gewand, das sich dabei als einziges Kleidungsstück Flavios erwies. Die unerwartete Nacktheit seines Freundes störte Fré-
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    déric sehr; er hatte das Gefühl, ganz rot zu werden. Darin jedoch täuschte er sich. Im Gegenteil: Er wirkte noch blasser als sonst. Es kostete ihn zunächst große Überwindung, seine flimmernden Augen auf den Bildschirm gerichtet zu halten. Doch bald war es umgekehrt: Er konnte seinen Blick nicht mehr von diesen Bildern voller Grauen, die hier vor ihm abliefen, lösen. Frédéric hockte reglos zusammengekrümmt in seinem Ledersessel – so, als befände er sich in einem Kokon. Alles in ihm bäumte sich auf, jede Faser schien gespannt vor Entsetzen. Verzweifelt wünschte er sich, den weiteren Ablauf des Videos unterbrechen zu können, aber er vermochte seine verkrampften Fäuste nicht zu öffnen, und seine Arme versagten ihm den Dienst.
    Nach dreiundvierzig Minuten wichen die farbigen Schreckenssze-nen dem wie Schneegestöber wirkenden Flimmern der Mattscheibe, die ihren Schein auf die versteinerten Züge Frédérics warf. Ohne es zu merken, hatte er sich die Lippen so blutig gebissen, dass ein dicker roter Streifen über sein Kinn lief. Schließlich riss er sich, wie aus einer Hypnose erwacht, mit einem wimmernden Klageton aus seinem Sessel hoch und taumelte auf ein Bücherregal zu, wo er hinter der obersten Reihe von Büchern einen kleinen Revolver versteckt wusste. Der lag dort schon seit etwa zwei Jahren – seit jener Nacht, als Flavio ein russisches Roulette vorgeschlagen hatte. Er hatte schon die mit nur einer einzigen Patrone geladene Trommel rotieren lassen, als Frédéric sich auf ihn warf und ihm in letzter Sekunde die Waffe entriss. Sie hatten nie wieder diese Geschichte er-wähnt, und die Fragen, die der Seminarist sich stellte, waren unbeantwortet geblieben: Hatte Flavio den äußersten Nervenkitzel aus-kosten wollen? Oder wollte er ihn auf die Probe stellen und hatte die Waffe gar nicht scharf geladen? Frédéric zitterte so stark, dass er die kleine Waffe mit beiden Händen halten musste, um sich ihren Lauf in den Mund zu stecken. Der Übelkeit erregende Geruch, der sich nach dem Weggang Renatas verflüchtigt zu haben schien, 9

    machte sich erneut bemerkbar. Frédéric drückte auf den Abzug, doch das einzig vernehmbare Geräusch war das trockene Klicken des Schlagbolzens. Der junge Mann dachte plötzlich an seine Mutter und daran, wie sie ihn finden würde: ein klaffendes Loch in der Schädeldecke, sein Gehirn ringsum verspritzt… Er richtete nun den Lauf der Waffe gegen seine Brust, genau in Höhe des Herzens. Er zog ein zweites Mal ab, ein drittes Mal. »Flavio hat mich wohl angeführt«, dachte er, und dann: »Vielleicht ist ja auch das Video nur eine Täuschung.« Er wollte eigentlich dieser Überlegung noch weiter nachgehen, doch das Zucken seines Fingers ließ sich nicht mehr rechtzeitig aufhalten. Er spürte einen heftigen Schlag gegen seine Brust – und der letzte Gedanke, der ihn durchfuhr, war der, dass man einen solch schrecklichen Schmerz wohl nicht überleben kön-ne. Den Schuss selbst nahm er wahr wie einen Donnerschlag, der erst mit Abstand dem Blitz folgt. Als sein Mund sich unter dem Andrang eines Blutschwalls öffnete, hatte Frédéric Delagrave schon aufgehört zu denken. Und als seine Hand auf die Sessellehne fiel, hatte seine Seele ihn verlassen.
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    1 . KAPITEL
    reißig Jahre bei der Gendarmerie Royale du Canada (GRC), bei Dder königlich Kanadischen Polizei, hatte er nun hinter sich, sieben bis zur Pensionierung noch vor sich. Seine Laufbahn war ohne jeden Fehler, sein Ansehen ohne jeden Makel: Der Inspektor-posten war Julien Boniface so sicher wie das Amen in der Kirche gewesen. Und doch hatte ihm in letzter Sekunde diese Kiersten MacMillan die Beförderung vor der Nase weggeschnappt. Da der letzte Bericht der Bundeskommission für Menschenrechte bemängelt hatte, die GRC lasse es an Beförderungen für Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten fehlen, hatte Kommissar Clarkson ein so genanntes Positivprogramm beschlossen. Die erste, die davon profitierte, war Kiersten.
    Ihre Bevorzugung war wie eine Ohrfeige für Julien gewesen, die umso mehr schmerzte, als er fünf Jahre
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