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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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hundertzwanzig und nur Minuten später erreichte ich die Scheune.
    Karl stand vor der Tür.
    Natürlich kannte ich die Scheune, hatte sie aber immer nur am Rande wahrgenommen, weil sie nicht wichtig war. Bauer Harmsen stellte darin manchmal seine Schafe unter. Er hatte nur eine kleine Herde und war im Gegensatz zu vielen anderen Schäfern der Ansicht, dass es nicht gut für die Tiere sei, wenn sie nass wurden. Bauer Harmsen war auch einer, der nachts bei seinen Schafen blieb, wenn die Geburt der Lämmer unmittelbar bevorstand. Viele im Dorf belächelten ihn wegen seiner übertriebenen Tierliebe, aber ich mochte ihn gerade deswegen.
    Karl sagte kein Wort und drückte die hölzerne Tür auf, die nur angelehnt war. Der Kegel seiner Taschenlampe tanzte durch den riesigen Scheunenraum, so zitterte seine Hand.
    Ich war nicht annähernd darauf vorbereitet, was ich dann sah.
    Es war das Schlimmste, was ein Mensch überhaupt ertragen kann.
    Sie hing am offenen Heuboden. Mit einem langen Seil um den Hals.
    Meine Schöne hatte gespenstisch weit aufgerissene Augen, die das Entsetzen über den eigenen Tod nicht fassen konnten, und eine heraushängende, aufgequollene Zunge.
    Ich wollte sie unbedingt in den Arm nehmen. Sie würde aufwachen, wieder anfangen zu atmen, sich erholen, wieder normal aussehen, wieder zu uns zurückkehren. Wir würden sie nach Hause tragen, ins Bett legen, den Arzt rufen, und in ein paar Tagen wäre alles wieder gut.
    Aber ich konnte mich nicht rühren und starrte auf meine Tochter, deren Körper der leise Zugwind in der Scheune leicht hin und her baumeln ließ.
    Und in dem Moment hab ich mich gefragt, warum ich nicht einfach sterben konnte. Hier, jetzt, in dieser Sekunde. Nur ein wenig später als sie.
    Schließlich sagte Karl, dass wir nichts anfassen dürften und sie da nicht runterholen könnten, weil wir mögliche Spuren verwischen würden. Die Polizei würde gleich kommen.
    ›Svenja ist jetzt im Himmel‹, flüsterte ich, ›aber sie kommt zu mir zurück, und dann bleibt sie für immer.‹
    Wie lange wir gewartet haben, weiß ich nicht mehr. Vielleicht eine halbe Stunde oder auch nur ein paar Minuten. In der Zeit sagte ich ihr ganz still und ganz für mich Adieu. Bis heute habe ich nicht damit aufgehört.
    An keinem einzigen Tag.
    Und niemals werde ich im Kopf das Bild meiner kleinen tapferen Svenja löschen können, die der Welt die Zunge herausstreckte, die sie im Stich gelassen und am Leben gehindert hatte.«
    Dr. Corsini schenkt Christine Wasser nach, aber sie registriert es gar nicht und redet weiter.
    »Als die Polizei eintraf, bin ich nach Hause gefahren, hab eine halbe Flasche Wein in einem Zug ausgetrunken und mich dann zusammen mit Raffael ins Bett gelegt.
    Dass ich den Arm um ihn legte und ihn streichelte, hat er wahrscheinlich gar nicht gemerkt.
    Ich hab mir Svenjas Schlafanzug vors Gesicht gedrückt, ihren sanften, süßlichen Geruch eingeatmet und mir das Hirn zermartert, was in der Scheune wohl geschehen war. Wie es bloß dazu kommen konnte.
    Und irgendwie hab ich gespürt, dass sie noch da, noch in meiner Nähe war.
    Um drei Uhr früh ist dann Karl mit den Polizisten nach Hause gekommen. Er sah aus, als wäre er in dieser Nacht zwanzig Jahre gealtert.
    Ich bin aufgestanden und hab Kaffee gekocht.
    ›Wie ist es passiert?‹, fragte ich schwach.
    Kommissar Kogler zuckte die Achseln und meinte, es wäre wohl ein Unfall gewesen. Jedenfalls glaubte dies der Gerichtsmediziner nach der ersten Untersuchung. Die Zwillinge haben auf dem Heuboden gespielt, und Svenja ist durch die morsche Bodenklappe gestürzt.
    Aber ich konnte nicht begreifen, warum sie ein Seil um den Hals hatte.
    ›Was spielt man mit einem Seil um den Hals?‹, überlegte Kogler. ›Ich bin da nicht mehr so auf dem Laufenden, meine Kinder sind schon lange groß. Spielt man da Hund? Oder Tarzan? Oder sogar Hinrichtung? Ohne daran zu denken, dass auch in einem Spiel wirklich etwas passieren kann? Ich weiß es nicht.‹
    Hund, dachte ich. Ja, wahrscheinlich haben sie Hund gespielt. Sie hatten sich sehnlichst einen gewünscht, aber wir wollten keinen, weil wir uns nicht die Möglichkeit verbauen wollten, mit den Kindern auch mal lange Fernreisen zu unternehmen.
    So blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie mussten Hund spielen.
    Unser eigenes Vergnügen war uns wichtiger gewesen als die Sehnsucht unserer Kinder nach einem Hund.
    Ich wusste, dass ich nie mehr Ruhe finden würde.«
    »Und ist das so?«
    »Ja, das ist so.«
    »Sie
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