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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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zum Schritt – nirgends eine Wunde oder ein Schmerz.
    Verdammt noch mal, woher kam das Blut?
    Er blinzelte zur Uhr. Die digitalen Ziffern des Radioweckers zeigten zehn Uhr dreiundzwanzig.
    Mühsam stand er auf. In seinem Kopf explodierten Stiche wie ein Feuerwerk, aber er ignorierte sie und taperte langsam und vorsichtig zum Spiegel.
    Jetzt erst wurde ihm das Ausmaß des Desasters richtig klar: Er sah aus, als ob er ein Schwein geschlachtet hätte.
    Ihm brach der kalte Schweiß aus.
    Bleib ruhig, dachte er, ganz ruhig. Es gibt für alles eine Erklärung, du kommst bloß nicht drauf. Und mit diesem schmerzenden Kopf und der Übelkeit, die sich in ihm auszubreiten begann, schon gar nicht.
    Er starrte auf sein Spiegelbild, verstand überhaupt nichts mehr und bekam das nackte Grausen. Auf dem Tisch lagen Zigaretten. Mit zitternden Fingern nestelte er eine aus der Packung, zündete sie an und rauchte mit schnell aufeinanderfolgenden, tiefen Zügen.
    Mein Blut ist es nicht, mein Blut ist es nicht, hämmerte sein Gehirn in einer Endlosschleife. Ich blute nicht, ich bin nicht verletzt, ich bin okay. Ich bin okay. Ich bin okay.
    Aber von wem ist das Blut dann? Was war passiert?
    Stumm stellte er sich wieder vor den Spiegel und stierte auf seine besudelten Sachen, als könnte er ihnen die Wahrheit entlocken oder die Spur einer Ahnung auslösen.
    Doch er hatte keinerlei Erinnerung an den gestrigen Abend.
    Nicht die geringste.
    Er ließ die Zigarette in eine halb volle Bierflasche fallen. Es zischte leise.
    War heute Donnerstag oder Freitag? Verflucht, noch nicht einmal das wusste er. Er torkelte, zog den Reißverschluss seiner Jeans auf und stieg so vorsichtig aus der Hose, als täte jede Berührung mit dem Stoff fürchterlich weh.
    Das Blut war durch die Jeans bis auf seine Haut durchgedrungen, und seine Oberschenkel hatten rötlich braune Flecken. Er glaubte, sich übergeben zu müssen, so widerlich fand er das.
    Er warf die Jacke auf den Boden und versuchte das T-Shirt auszuziehen. Dabei weitete er den Halsausschnitt, bis das Hemd zerriss und er es über den Kopf ziehen konnte, ohne mit dem Blut in Berührung zu kommen.
    Er sah sich um. Über sein Bettlaken zogen sich einige bräunliche Streifen von getrocknetem Blut. Er riss das Laken von der Matratze und warf es auf den blutigen Haufen.
    Er konnte es einfach nicht begreifen.
    Woher kam das Blut?
    Und was war denn heute für ein Tag?
    Auf dem Schreibtisch lag sein Kalender. Hektisch blätterte er darin herum, aber das half ihm nicht weiter, weil er nichts eingetragen hatte.
    Sein Handy. Es müsste in der Jacke sein, und da stand auf dem Display das Datum.
    Also musste er wieder die Jacke berühren. Er würgte, als er vorsichtig die innere Brusttasche befühlte. Das Handy war nicht da. Dann vielleicht vorn rechts außen. Oh Gott, das Blut war sogar in die Jackentasche gesickert. Er schluckte mehrmals, fuhr vorsichtig mit der Hand hinein.
    Die Tasche war leer.
    Er überlegte. Merkwürdig, rechts in der Jackentasche hatte er doch immer das Messer. Sein Messer! Verdammte Scheiße, wo war sein Messer?
    Es war nicht irgendein Messer. Nicht er hatte sich das Messer ausgesucht, sondern das Messer ihn . Darum war es ihm so wichtig, und darum hatte er sich auch immer sicher gefühlt, wenn es in der Jackentasche schwer in seiner Hand lag.
    Die Szene stand ihm vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Berlin, U-Bahnhof Kaiserdamm, nachts um kurz nach eins. Vor fast zwei Jahren.
    Er hatte auf einer Bank gesessen, auf die U-Bahn gewartet, und war dabei eingeschlafen. Eine Viertelstunde oder eine halbe war vergangen, als er durch laute Stimmen geweckt wurde. Zwei Typen attackierten einen Mann, der wesentlich älter war als sie. Ungefähr Mitte dreißig, schmächtig und unauffällig gekleidet. Völlig unvorstellbar, dass diese graue Maus die beiden, die sicher nicht älter als achtzehn oder zwanzig waren, provoziert hatte.
    Sie schubsten ihn immer näher an die Gleise heran. Der Mann schrie und flehte, ihn in Ruhe zu lassen.
    Wie gelähmt saß er da, und ihm wurde heiß, denn er wagte nicht einzugreifen. Aber genauso wenig konnte er in dieser Situation davonrennen. Ein Handy, um die Polizei zu rufen, hatte er – wie so oft – nicht dabei und schämte sich unsagbar, weil er nichts tun konnte.
    Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Das Geräusch klackernder, hastiger Absätze auf den Stufen. Irgendjemand rannte, aber er wusste nicht, ob dieser jemand floh oder auf den Bahnsteig
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