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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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dreimal.
    Dann ging er ran.
    »Ja?«, knurrte er.
    »Na, schon wach? Geht’s dir einigermaßen?« Frank war der Bühnenmeister und hatte um diese Uhrzeit eine erschreckend laute und wache Stimme, was Raffael sofort auf die Nerven ging.
    »Bestens«, knurrte er. »Wieso?«
    »Weil ich nicht dachte, dass du heute Vormittag aus dem Bett kommst, und weil du offensichtlich auch zwei Stunden brauchst, um ans Telefon zu gehen.«
    »Ach ja?«
    »Ja. Gestern bist du im Bier regelrecht ertrunken. Joachim und Bruno übrigens auch.«
    »Und deswegen rufst du an?«
    »Nee, ich wollte dich daran erinnern, dass du heute um fünfzehn Uhr im Theater sein musst. Umbau auf Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung . Nur, dass du das nicht verpennst mit deiner Matschbirne.«
    »Ja, ja.«
    »Meinst du, du bist fit heute Nachmittag?«
    »Mann, lass mich in Ruhe.« Raffael knipste das Gespräch weg.
    Was für ein Schwachsinn! Fast jeden Tag Umbau zu einem anderen Stück, nur damit die Abonnements grün, gelb, lila und kariert bedient werden konnten. Ein einziger Stress und eine Idiotenarbeit.
    Er versuchte sich zu entspannen und schloss die Augen.
    Es war nichts passiert. Alles war in Ordnung. Um zwei würde er ins Theater gehen, um acht ging der Lappen hoch, und gegen Mitternacht stand er wieder auf der Straße. Wie jeden Abend. Heute und in alle Ewigkeit, amen. Die Welt drehte sich weiter, alles war gut.
    Aber woher, zum Teufel, kam das Blut?
    Die Klamotten. Diese verdammten Klamotten.
    Er ließ seinen Blick auf der Suche nach einem geeigneten Versteck im Zimmer umherwandern. Direkt vor dem Erkerfenster stand das dunkelgrüne, plüschige, mit gedrehten Kordeln besetzte Sofa mit den beiden passenden Sesseln, gleich neben der Tür der Biedermeiertisch mit vier Stühlen, vor dem Fenster zum Hof ein Schreibtisch, obwohl er eigentlich nur sehr selten oder gar keinen Schreibtisch brauchte; in der Ecke links neben der Tür war der wuchtige Schrank aus dunklem, fast schwarzem Holz, dessen Türen zum Gotterbarmen knarrten und die er schon deswegen nicht gern öffnete, und als Höhepunkt prangte an der Wand dem Schreibtisch gegenüber das gewaltige hohe Bett mit einem geschnitzten Rückenteil aus Eichenholz. Raffael hatte keine Ahnung, ob das Bett hundert oder zweihundert Jahre alt war, Heerscharen von Kindern waren sicher darin gezeugt worden – aber er fand es großartig. Ein Bett aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit, das es so heute sicher nicht mehr gab.
    Vor den Fenstern hingen im Laufe der Jahre gelb gewordene Fenstergardinen und davor schwere, goldgrüne Übergardinen. Inderteppiche in dunkelroten Tönen bedeckten das abgewetzte Parkett.
    Dieses Zimmer konnte einen umarmen oder erdrücken – je nachdem, wie man es sah.
    Er lauschte angestrengt. In der Wohnung war es still. Keine Schritte im Flur, kein Klappen einer Tür waren zu hören. Merkwürdig. War Lilo gar nicht zu Hause?

4
    Raffaels Vermieterin Lilo Berthold war neunundsiebzig, und sie wohnte seit über fünfzig Jahren in dieser weitläufigen Altbauwohnung mit zehn Zimmern. Das ehemals prachtvolle Mietshaus war mittlerweile heruntergekommen, verwohnt und mehr als baufällig. Seit Jahrzehnten waren Fenster, Dach und Heizungsanlage nicht mehr saniert worden, durch die zerbrochenen Fenster im Treppenhaus pfiff der Wind, das Treppengeländer war im dritten Stock über mehrere Meter völlig weggebrochen.
    Im Lauf der letzten Jahre hatte sich das Haus in ein Geisterhaus verwandelt. Die Mieter waren nach und nach ausgezogen, es gab nur noch zwei Parteien, die den Anwaltsattacken, bösen Briefen und Mobbingversuchen des Hausbesitzers, der das Haus sanieren und die lästigen Mieter endlich loswerden wollte, trotzten. Lilo im vierten Stock und eine indische Familie im Parterre.
    Lilo lebte einfach schon zu lange in diesem Haus, als dass man sie so einfach auf die Straße setzen konnte, sie hatte »Bestandsschutz«, und alle Entschädigungs- und Umzugsangebote lehnte sie stur ab.
    Im Hinterhof hatte sie einen kleinen Garten, den sie über alles liebte und mit dem sie sich verglich. Kam der Herbst und verloren Bäume und Blumen ihre Blätter und Blüten, dann war auch sie davon überzeugt, den Winter nicht zu überleben. Aber im Frühling, wenn alles wuchs und sie an jedem schon längst totgesagten Zweig frische Knospen entdeckte, erwachte ein unbändiger Lebenswille in ihr, der ihr monatelang Kraft gab.
    Dieses Haus war ihr Leben, ihre Heimat. Die einzige, die sie hatte. Hier
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