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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos
Autoren: Sabine Thiesler
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der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen stand, und da hatte er recht. Ich sah es völlig ein, auch wenn der Gedanke an eine Gegeneinladung von der ersten Minute an wie ein Schreckgespenst über mir schwebte.
    Aber es kam ganz anders.
    Die Frau des Dekans hatte gerade die Vorspeise serviert, als das Telefon klingelte. Sie entschuldigte sich und nahm das Gespräch im Flur an.
    Sekunden später kam sie zurück und sagte zu mir:
    ›Für Sie.‹
    Ich brach innerlich zusammen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
    Meine Mutter war am Apparat. Sie konnte kaum sprechen, so hat sie geweint.
    ›Reiß dich zusammen und sag mir endlich, was passiert ist!‹, hab ich sie angeschrien, und es war mir egal, ob es alle hören konnten.
    Meine Mutter schniefte, putzte sich die Nase, und dann hat sie stockend gesagt, dass die Kinder zu Fiete gegangen waren, zum Spielen. Um sieben sollten sie zu Hause sein. Wie immer. Wie abgemacht. Aber sie sind nicht gekommen. Um halb acht hatte sie dann bei Irmgard angerufen und gefragt, wo die Kinder bleiben, und Irmgard sagte, sie wären nur ganz kurz da gewesen. Fiete durfte nämlich nicht spielen, der hatte Stubenarrest, weil er Spülmittel in den Graben gespritzt hatte, und dabei waren drei Enten ertrunken.
    Meine Mutter war dann durchs ganze Dorf gerannt, hatte die Kinder gesucht und jeden gefragt. Aber niemand hatte sie gesehen.
    Jedenfalls stand Raffael dann endlich, um zehn vor acht, vor der Tür. Aber allein. Ohne Svenja. Und er sagte nicht, wo sie ist. Er sagte überhaupt nichts. Keinen Ton.
    ›Bleib, wo du bist, Mama!‹, hab ich ins Telefon gebrüllt. ›Pass auf Raffael auf, wir kommen. In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.‹
    Die Vorspeise hatte noch niemand angerührt, weil alle höflichkeitshalber auf mich gewartet hatten. Wir haben uns sofort hastig verabschiedet, sind in mein Auto gesprungen und rasten über die Autobahn.
    Während der Fahrt haben wir kaum etwas gesagt. Weil wir dasselbe gedacht haben: Es musste etwas passiert sein, denn ein Zwilling allein – das gab es einfach nicht. Raffael und Svenja existierten nur im Doppelpack. Sie waren eins.
    Es war bereits dunkel und die Autobahn Richtung Norden fast leer.
    Beim Fahren hat Karl unentwegt seine Nasenwurzel gerieben, und ich wusste, dass er sich dadurch zu beruhigen versuchte und sich zwang, konzentriert nachzudenken. Er suchte nach Erklärungen, nach Ideen, wo sie sein könnte.
    Er hatte offenbar vor, pragmatisch und auf keinen Fall emotional an das Problem heranzugehen.
    Das hab ich ihm angesehen und sagte nichts, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen. Und ich liebte ihn in diesem Moment. Er gab mir Halt. Wenn ich diese Angst durchstehen konnte, dann nur mit ihm.
    Als wir endlich zu Hause ankamen, stand meine Mutter verheult im Wohnzimmer am Fenster und starrte in die Nacht, als würde Svenja jeden Moment wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auftauchen.
    Sie hatte nichts Neues zu berichten. Hatte nichts gehört und nichts gesehen und vergeblich im Dorf herumtelefoniert. Noch nie hatte ich meine Mutter so hilflos und verzweifelt erlebt.
    Karl goss ihr einen Cognac ein, und dann gingen wir beide hoch ins Kinderzimmer.
    Raffael saß auf dem Bett. Ganz bleich und stumm. Er hat gar nicht reagiert, als wir reinkamen, hat uns nicht angesehen, war wie versteinert.
    ›Wo ist Svenja, Raffael?‹, hab ich ihn leise gefragt.
    Raffael hat noch nicht einmal mit den Achseln gezuckt, sondern nur gegen die Wand gestarrt, und sein Blick war so tot, als hätte er die Frage nicht gehört oder nicht verstanden.
    Ich hab mich neben ihn gesetzt, ihn fest an mich gedrückt und gestreichelt und ihn noch mal nach seiner Schwester gefragt.
    Karl hat sich vor ihn hingekniet und seine Hände gehalten.
    Aber Raffael hat sich nicht gerührt.
    Dieser kleine Junge, der da mit hängenden Armen verzweifelt vor uns saß, brauchte Hilfe. So viel war uns klar. Er stand unter Schock.
    Aber wir mussten wissen, wo Svenja war, um sie zu retten, falls ihr etwas zugestoßen war.
    Nach ein paar Minuten haben wir Raffael in Ruhe gelassen und sind nach unten gegangen.
    Karl griff nach seiner Jacke und zog seine Schuhe an. Wollte los, sie suchen. Zu mir sagte er, ich solle alles versuchen, dass Raffael redet, und die Polizei rufen. Im Hinausgehen steckte er noch die kleine Taschenlampe ein, die immer an der Garderobe baumelte.
    Ich hab angefangen wie verrückt zu zittern.
    Und da kam Raffael die Treppe herunter. Vielleicht, weil er seine Oma laut schluchzen
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