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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
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daß der bis zu 2 Meter Flügelspannweite große, auch als eitel geltende Vogel ein sehr feines Gehör hat. So kann er den Rhythmus von Fröschen im Paarungsgesang erkennen und blitzschnell verharrende Froschweibchen aufschnappen, die von einem bestimmten hochfrequenten Grunzton des rufenden Männchens wie hypnotisiert sind. Der Gelbschnabelschwan ist ein fremdes Getier verachtender Genießer.

Hochhuth, der
    Papierwurm, von dem zahlreiche Bibliotheken befallen sind und der seinen Namen wohl einem tiaraförmigen Höcker verdankt. Erstes Aufkommen belegt in der Septuaginta, zum Erstaunen der Fachwelt neuerdings auch in Theatern gesichtet – dort verschlingt er nicht mehr Bücherberge, sondern ruiniert nach Ansicht bösartiger Kritiker und Direktoren angeblich die Bühnenböden; die Spur, die er dort hinterläßt, heißt «Jamb», und seine Vorliebe gilt den Vorhängen. Eine renommierte Kammerjägerfirma H. & K. mit Sitz in Hamburg vermochte ihn nicht zu vertreiben. Man nennt das Tier auch starrsinnig, in seinem Fleiß hingegen gilt es als unbeirrbar. Seine langen, metrisch geordneten Ausscheidungen werden sorgsam in international renommierten Archiven verwahrt, da sie als historisch einmalig eingestuft sind.

Höllerer, die
    Im Soldatenjargon benutzte Steigerungsform von Hölle. Damit sollen zuerst einmal die höllischen Schmerzen schwerer Verletzungen beschrieben werden – dann aber sind vor allem die Maden gemeint, die oft bei der Therapie von offenen Wunden benutzt werden. Maden oder Larven – meist aus den Eiern der Schmeißfliege geschlüpft – werden seit Urzeiten zur Wundreinigung eingesetzt; von Australien bis Zentralamerika, von den Aborigines bis zu den Maya. Im amerikanischen Bürgerkrieg beobachteten Ärzte der Konföderierten: «An einem einzigen Tag säubern die Maden eine Verwundung deutlich besser als alle anderen Substanzen, die wir zur Verfügung haben.» Da diesen Ärzten für ihre Truppen weniger Verbandsmaterial als den Unionstruppen zur Verfügung stand, konnten sie zugleich feststellen, daß sie es mit weniger Wundinfektionen zu tun hatten. Inzwischen wurde ein «Höllerer»-Lehrstuhl an der Ostküste der USA eingerichtet, und auch an europäischen Kliniken besann man sich auf die Nützlichkeit der zu Unrecht verachteten und des lächerlichen Gewimmels verdächtigten Tierchen. Ein deutscher Forscher summierte in der Zeitschrift «Die Made im technischen Zeitalter»: «Die Anwendung von Maden in der Wundbehandlung ist weder abstrus noch abseitig, sondern zählt eindeutig zum Repertoire der Schulmedizin.»

Hürlimann, der
    Besonders seltene und kunstvoll gemusterte Kreuzung aus Seegurke, Seestern und Wurmseewalze; alle drei zur Klasse der Stachelhäuter gehörend, die überall auf der Welt in Meeren resp. am Meeresgrund verankert leben. Unsere Spezies, auch Gipfelseeigel genannt, findet sich überdies überraschenderweise in den Alpenseen der Schweiz, ähnelt im organischen Aufbau den Seelilien und gilt zugleich in der Gastronomie als besondere Delikatesse. Das Ungewöhnliche der raren Kreuzung besteht darin, daß sie als sogenannter Nahrungsfiltrierer räuberisch lebt, Algen abweidet und um ein stabiles Innenskelett aus Kalkplatten gruppierte, streng symmetrische, sternförmig angebrachte Stacheln besitzt. Je nach Lichteinfall, Wassertiefe und Fortbewegung (z.   B. bei der Atmung oder Nahrungsaufnahme) schimmert dieser von einigen Kantonszoologen auch «Dornenkronenseestern» benannte Asteroid in den phantastischsten Farben, changierend zwischen Korallenrot, Grüngold oder Tief blau. Entsprechend hymnisch formuliert auch die wissenschaftliche Literatur, die vom «Glück des Betrachters» spricht, der jenes «Spiel und Widerspiel als Bewegung erlebt in die uns von der Natur verordneten Stillstände». Ein Forscher aus der Uckermark, der das zaubrisch an besonnten Stränden blitzende Fabelwesen fast liebend erwähnte, schwärmte gar von «früheren Lebensformen, die uns durch diese Kunstwerke nachgetragen wurden».

Jelinek, die
    Wegen ihres sonderbaren Neck-Neck- kreischendenRufs so benannte, nach Wien verirrte Möwe, deren besonders scharfe Augen jederlei Müll zur Resteverwertung erhaschen. Kinder ergötzen sich an ihrem Sturzflug und haben ihr den Küchenmädchennamen Elfriede verpaßt, weil sie von denen gewohnt sind, daß sie nicht preisgeben, wo sie Käse-, Wurst- oder Quarkreste preisgünstig ergattert haben. Nach dem Verdauen des aufgelesenen Abfalls sind die Ausscheidungen
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