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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
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übelriechend und derart ätzend, daß sie jegliche Politur oder Lackbeschichtung zersetzen. Oft entstehen auf bürgerlichen Garnituren oder Luxusartikeln dadurch aparte Muster. Einige Ornithologen sprechen von Kunst.

Johnson, der
    Pottwal. Häufigstes Vorkommen an der nordnorwegischen Küste, von Hamburg oder Berlin so weit entfernt wie der Nordpol. Dieser Wal stammt von einem vierbeinigen Säugetier ab, einem Paarhufer, und hat sich vor Millionen Jahren gleichsam rückwärts entwickelt: Die Vorderbeine wurden zu Flossen, die Hinterbeine schrumpften. Die Legende will, daß das eine verbliebene Nasenloch eine alkoholhaltige Fontäne herauspustet, «Blas» genannt, was Einheimische deswegen «Glas» aussprechen. Der bucklige Kopf heißt auch Dickschädel, und die «Fluke», wie der Fachausdruck für die Schwanzflosse des massigen Tieres lautet, erinnert an ein riesiges Ginkgoblatt, das Goethe so plastisch besang. Auf diese Weise hat der pro Tag eine Tonne Nahrung benötigende Pottwal Eingang in viele literarische Mären, Deutungen und mehrbändige Interpretationen gefunden: Mal versucht man, das Rätsel zu lösen, wie das tintenfischjagende Biest, das seinem Opfer oft die ausgestreckten Arme ausreißt, überhaupt in den Darß gelangen konnte, mal hat man das Solar in dem langen, dicken Kopf messen wollen, das, lärmend wie die Druckerpresse für einen vierbändigen Roman, seine Beute lähmt. Während die weiblichen Tiere mit dem oft einzigen Jungen in wärmeren Gewässern verharren, ziehen die Pottwalbullen bis zu den Azoren umher. Die «New York Times» publizierte Anfang der 80 er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Reportage mit Fotos, derzufolge ein 50 Tonnen schwerer Pottwal vor der Ostküste der USA gesichtet worden war, als er die Walmutter und das Junge angriff, um schließlich mit ohrenbetäubendem Klatschen der «Fluke» abzutauchen.

Kappacher, die
    Niemand weiß, wie die kunstfertige Rotohrmeerkatze, die immer aussieht wie in schöne Melancholie versunken, nach Österreich gelangt ist. Obschon eine Affenart, gleicht sie keineswegs den sogenannten Menschenaffen – Schimpansen, Orang-Utans –, vor deren Zookäfigen sich die Menschen staunend stauen, weil sie sich widergespiegelt fühlen. Meerkatzen hingegen haben sich aus diesen klimatisierten Tier-Büro-Türmen zurückgezogen; es scheint, als lauschten sie den eigenen Lauten und sparten ihre Gesten der Zärtlichkeit abseits jedes großen Trubels. Dabei ist die Rotohrmeerkatze – ähnlich etwa der Rotschwanzmeerkatze und dem Husarenaffen – ein durchaus soziales Wesen, das sein Selbstvertrauen, manchmal auch seine Furcht, durch vielfältige Signale auf Artgenossen überträgt. Der seltsam besinnliche Gesichtsausdruck ähnelt am ehesten dem der Diademmeerkatze, weswegen ein berühmter Affenforscher dem Tier eine Würde zuschrieb, die er mit den Worten umriß, man habe den Eindruck von steter «Prüfung der Lebensart».

Kehlmann, der
    Norddeutsche, auch berlinisch volkstümliche Bezeichnung für die eigentlich Salzburger Variante des Molkendiebs, eines Schmetterlings in sehr angenehmen Farben. Zu seinen ansonsten in der Zoologie selten beobachteten Eigenschaften gehört die Fähigkeit, im Schein großer Tiere zu gaukeln, deren Bewegungen und Täuschungsmanöver er nachahmt. Forscher wollen beobachtet haben, daß er – ähnlich bestimmten Mottenarten – gerne ein Licht umschwirrt, vorzüglich Scheinwerferlicht von Freilichtbühnen. Sein Tanz im Wind ist streng rhythmisiert, und der leichte Flügelschlag, um die Balance auf Blütendolden zu halten, wirkt wie eine einladende Geste; daher beim Betrachter sehr beliebt.

Kempowski, die
    Einzeller, der gewöhnlichen Nordseequalle ähnlich, aber mit besonders ausgeprägten Fangarmen. Mit deren Hilfe vermag die ansonsten farblose Gallertkugel größere Tiere und Gegenstände zu erjagen und in einer Art Vorratskammer über längere Frist aufzubewahren. Gilt bei Wissenschaftlern deshalb als «Erinnerungswunder». Da dieses Wesen an der Luft leider verdunstet, bleibt von ihm nichts übrig als die erlegten Utensilien, die je nach Substanz manchmal schon in den Verdauungsprozeß einbezogen waren. Die Kempowski erfreut sich sowohl bei am Strand spielenden Kindern, die sich mit der harmlosen Qualle bewerfen, großer Beliebtheit als auch bei Lehrern, die ihren Schülern den Vorgang der Materialaneignung – von Niveatuben bis zu Präservativen – demonstrieren wollen. Daher stammt wohl der für die Kempowski
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