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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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gelegentlich gebräuchliche Ausdruck Flaschenpost.

Kirchhoff, der
    Der Klippschliefer wird oft fälschlicherweise den Nagetieren zugerechnet, gehört aber – obwohl Sohlengänger – zur Ordnung der Huftiere. Vor Millionen Jahren soll er die Größe von Tapiren gehabt haben – die jetzt meist auf Klippen und Bergabhängen lebenden zierlichen Pflanzenfresser sind eher klein, behende und von nahezu kunstvoller Beweglichkeit. Dieses meisterhaft Behende verdankt sich den weichen, zarten, durch eine tintenähnliche Flüssigkeit feuchtklebrig gehaltenen fleischigen Sohlen, mit denen glatte Wände erklommen werden können. Beobachter verglichen die graziös-schnellen Bewegungen mit der Fähigkeit von Geckos, denn wie diese vermag der Klippschliefer etwa kopfunter an fast senkrechten Flächen zu laufen oder sich an halsbrecherischen Stellen der von ihm bewohnten Felsen anzukleben; dabei kann er Höhen von drei bis fünf Metern mühelos überwinden, sogar mit langen Sätzen acht bis zehn Meter hohe senkrechte, überhängende Wände hinabgleiten, hinunterlaufen und abspringend ein neues Felsgesims erreichen. Zum Charakteristikum des geselligen Tieres gehört, daß es zwar abends oder nachts durch vernehmliches Stimmengeräusch kritische Gegner – wie etwa Leoparden – zum Davonschleichen bringt, zugleich aber am einmal gewählten «Wohnplatz» festhält; das mag eine Felsgrotte oder ein Verlagsgebäude sein.

Kirsch, das
    Auch das Sarah genannt, weil das truthahnähnliche Tier zur Jungfernzeugung fähig ist, deren Fachbegriff Parthenogenese lautet. Bei vielen Tierarten – Würmern, Wasserflöhen, Blattläusen – nutzen die Weibchen diesen Trick, um vor allem in Notzeiten sich ohne die Mitwirkung eines Männchens fortzupflanzen. Vor Jahrzehnten haben amerikanische Wissenschaftler herausgefunden, daß die Eier des Beltsville Small White Turkey parthenogenetisch entstehen. Zur Überraschung der Fachwelt fanden sich Exemplare dieser Truthühner auch in Norddeutschland. Nach komplizierten Züchtungsverfahren und Experimenten mit der Verdoppelung der spezifischen Geschlechtschromosomen entschlüpfte aus einem von sieben Eiern ein gesundes Truthähnchen, ungeschlechtlich erzeugt. Es ist kenntlich durch einen besonders hohen und feinen Fiepton, der als abendlicher Lockruf interpretiert wird.

Kleeberg, die
    Taufliege. Der französische Spezialist Le Goff – Kollegen haben seiner Darstellung «eine Syntax von anrührender Lakonie» bescheinigt – hat in einer akribischen Studie dem Insekt «Grazie» zugebilligt, wobei er den Begriff rückkoppelt auf das französische «gracieux», genießend. Das soll als Hinweis darauf verstanden werden, daß die Taufliege mit ihren winzigen Flügeln fast wohlgefällig genießerisch bis zu zweihundert Mal pro Sekunde auf und ab schlägt, um abheben zu können; «es grenzt an ein kleines Wunder», folgert der Forscher, weil dergleichen mit gewöhnlichen Muskeln nicht zu schaffen wäre. Solche Flugmuskeln indes verfügen über «ultraschnelle Supermuskeln», die sich mit Hilfe eines speziellen Genoms entwickelt haben. Ob dieses sich bereits bei der Verschmelzung von Ei und Samenzelle ausbildet oder erst später durch eine «Spalt» genannte Abspreizung zweier Muskelstränge entsteht, ist trotz Untersuchungen in einem Pariser Hospital nicht erforscht. Besucher mehrerer Parkanlagen in der französischen Hauptstadt, denen ein Streik der Métro Zeit für ihre Beobachtungen ließ, wollen einen Kontraktionskreislauf beobachtet haben, bei dem sich die nervösen Flügel blitzschnell mal nach oben und mal nach unten bewegen und so den eher massigen kleinen Körper in die Lüfte katapultieren. Wohl deshalb hat Le Goff seine Veröffentlichung «Das amerikanische Hospital» genannt, die er im Herbst 2010 auf einer vielbesuchten Vortragsreise durch zwölf deutsche Städte zwischen Berlin, Karlsruhe und Mainz vorstellte.

Kluge, das
    Absonderlich-spektakuläre Mischzüchtung aus Greifadler und Mausvogel, die zwei kooperierenden Forscherteams renommierter Universitäten gelungen ist. Das Kluge kann dank einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern in großer Höhe schweben und dank besonders oszillierender Augen fotogenau Spuren oder Reste von Lebewesen entdecken; und zwar den Stiefelabdruck samt daran klebendem Kot von Soldaten so gut wie die Asche von gebrandschatzten Gebäuden, unter der noch Fleischfetzen verborgen sind. Dem Mausvogel ähnlich kann das Kluge aber auch mit hochgerecktem Schwanz

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