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Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Titel: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Autoren: Alois Prinz
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Jahres beginnt Hannah wieder mit ihren Kursen und Vorlesungen an der »New School«. Mit der Universitätsleitung ist vereinbart, dass sie noch bis zum Herbst 1976 lehrt, also noch knapp zwei Jahre, und dann in Pension geht. Hannah denkt aber noch nicht daran, kürzer zu treten. Sie ist auf der Höhe ihres Ruhmes, sie wird mit Preisen und Ehrungen überschüttet, sie will ihr Buch zu Ende schreiben und ihr Terminplan ist auf Monate hinaus voll.
    Sie wird sogar ihrem Vorsatz untreu, sich nicht mehr über politische Dinge zu äußern. Anlässlich der Feierlichkeit zur zweihundertjährigen Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten hält sie in Boston eine furiose Rede, in der sie den Vietnam-Krieg und den Watergate-Skandal als Ereignisse sieht, die auf den »Verfall der Republik« hindeuten. Sie ruft dazu auf, sich wieder auf die Wurzeln dieser Republik, auf die Gründerväter und ihre Ideen zu berufen. Die Rede wird begeistert aufgenommen und überall im Land diskutiert. Hannah bekommt so viele zustimmende Briefe wie noch nie in ihrem Leben.
    Wie immer, wenn ihr der Trubel um ihre Person zu viel wird, hat Hannah das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Ihre Gewohnheit, wenn möglich jedes Jahr nach Europa zu reisen, um an ihre Wurzeln anzuknüpfen, behält sie bei. Im Mai 1975 fährt sie zunächst nach Marbach, um am dortigen Literatur-Archiv den Nachlass von Karl Jaspers zu ordnen. Dann reist sie weiter nach Tegna, in das »Albergo Barbat«.
    Selbst dort erreicht sie noch die »Fan-Post« wegen ihrer Bostoner Rede. Darunter ist auch der Brief eines jungen Mannes, den Hannah »höchst amüsant« findet. Er habe gehört, schreibt der junge Verehrer, dass sie »in die Jahre« käme, und da wolle er sie seine Meinung wissen lassen, bevor sie »dahinscheide«.
    Der Sommer in Tegna ist »strahlend schön«. Hannah ist dankbar für so viel Sonne. Sie frühstückt jeden Morgen auf der Terrasse des Gasthofes, und immer, wenn sie fertig ist, fliegen zwei Rotkehlchen auf ihren Tisch, um die übrig gebliebenen Krümel aufzupicken.
    Im August nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und fährt nach Freiburg. Sie hofft, mit Heidegger noch einmal reden zu können. Doch ihr Besuch wird ein noch größeres Desaster als vor einem Jahr. Deprimiert kehrt sie nach Tegna zurück. »Heidegger ist nun plötzlich wirklich sehr alt«, schreibt sie an Mary McCarthy, »sehr verändert gegenüber dem letzten Jahr, sehr taub und zurückgezogen, unnahbar, wie ich ihn nie zuvor gesehen habe. Ich bin hier wochenlang von alten Menschen umgeben gewesen, die plötzlich sehr alt geworden sind.« 5
    Hannah Arendt wird am 14. Oktober neunundsechzig Jahre alt. In ihrer New Yorker Wohnung versammelt sich der ganze »Stamm«, um ihren Geburtstag zu feiern. Auch das Erntedankfest feiert der Freundeskreis zusammen, in der Wohnung von Hans Jonas.
    Einen Tag nach dem Erntedankfest, am 2. Dezember, einem Sonntag, lässt sich Hannah mit dem Taxi nach Hause bringen. Als sie aus dem Taxi steigt und zu ihrem Wohnblock geht, stolpert sie und stürzt. Die Passanten bleiben stehen und es gibt einen Auflauf. Der Portier ihres Hauses will die Polizei und einen Krankenwagen rufen. Währenddessen hat Hannah wieder Kräfte gesammelt. Sie überprüft, ob sie sich nichts gebrochen hat. Dann rappelt sie sich hoch, bahnt sich einen Weg durch die Menge und verschwindet in ihrem Haus.
    Eigentlich wollte Hannah am nächsten Tag wegen des Sturzes zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen. Aber weil sie kaum noch Schmerzen hat und das Wetter miserabel ist, verzichtet sie darauf. Sie hat sowieso sehr viel zu tun. In den letzten Tagen hat sie ihre Notizen zum dritten und letzten Teil von Das Leben des Geistes über das »Urteilen« geordnet und sie will jetzt daran gehen, dieses Kapitel zu tippen.
    Am Donnerstag, den 4. Dezember setzt sie sich abends an ihren Schreibtisch, von dem aus sie einen Blick hat auf die dunklen Wasser des Hudson River und die Lichter von New Jersey. Auf dem Schreibtisch, den sie sich zum Einzug in die Wohnung gekauft hat, steht eine Terrakottafigur, die ihr Mary McCarthy geschenkt hat, daneben Fotografien von Martha Arendt, ihrer Mutter, von Heinrich Blücher und von Martin Heidegger. Hannah legt das erste Blatt in die Schreibmaschine ein und tippt als Überschrift: »Die Urteilskraft«. Darunter schreibt sie zwei Mottos – einen Spruch Ciceros und eine Passage aus Goethes Faust:
    »Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar
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