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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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spreche sie mit jemandem, den man nicht sehen konnte.
    Dann war auch der Abspann zu Ende, das Licht flammte auf und die letzten Zuschauer verschwanden im Ausgang. Der ganze Saal war jetzt leer bis auf uns beide, und eine Putzfrau mit blauem Kittel begann, zwischen den Sitzreihen durchzulaufen und die Müllbehälter zu leeren. Es war wohl die letzte Vorstellung für diesen Abend gewesen. Sie würde noch ein bisschen brauchen, bis sie sich in unsere Reihe hochgearbeitet hatte, und Angelina hatte aufgehört zu flüstern. Sie musste geweint haben, ich sah die feinen, weißgeränderten Rinnsale auf ihren Wangen, die noch nicht ganz aufgetrocknet waren.
    Auf der Straße hatte ich den Eindruck, plötzlich wieder mitten im eigenen Leben zu sein, und Angelina schien es ähnlich zu gehen. Sie blickte auf ein Kinoplakat, viel zu lang, als dass man noch glauben konnte, sie betrachte es mit Interesse. Ich fragte sie, ob ich sie zurück ins Hotel bringen solle.
    „Lass nur“, antwortete sie hastig, „es ist ja nicht weit.“
    Und bevor ich noch etwas entgegnen konnte, hatte sie mir schon den Rücken zugedreht und ging davon. Ich überlegte, wo ich mein Auto abgestellt hatte, aber kaum hatte ich die Straße überquert, um zum Parkplatz zu gelangen, stand Angelina wieder neben mir, außer Atem. Wir könnten doch nicht so tun, als ob nichts passiert wäre, sagte sie. Wenn wir noch ein bisschen Trost finden wollten, dann jetzt. Dann müssten wir es jetzt machen. Jetzt, bevor alles zu spät sei.
    „Ist das nicht ein Zitat?“, sagte ich.
    „Bitte“, sagte Angelina, fast flehentlich, und senkte den Kopf.
    Sie stand vor mir wie jemand, der sich bewusst ist, das Falsche zu tun, das Falsche zu sagen in diesem Augenblick, aber einfach nicht anders kann und fest entschlossen ist, geradeaus weiterzugehen.
    Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, aber ich lehnte meine Stirn gegen ihren Kopf und sie hielt mich fest. Dann gingen wir zum Auto, das in einer Straßeneinbuchtung vor einer Baustelle stand.
    „Es ist nur heute“, versuchte Angelina zu erklären, als wir zu meiner Pension fuhren, „es ist nur in diesem Augenblick, jetzt, und morgen nicht mehr … Verstehst du mich?“
    Sie zog ihren silbernen Flachmann aus ihrer Handtasche, drehte den Schraubverschluss ab, trank einen langen Schluck und hielt mir wortlos das Fläschchen hin. In meinem Zimmer standen wir eine Weile herum, ich zeigte Angelina die Hinweispfeile zum alten Luftschutzkeller nebenan und hoch oben die Einflugschneise der Flieger zum Flughafen Tempelhof. Die Nacht war sternlos und wir hielten vergeblich nach einem funkelnden Himmelskörper Ausschau.
    Irgendwann war der Flachmann leer und dann setzte sich Angelina aufs Bett und zog ihre Jacke aus, dann ihre Stiefel. Bevor sie weitermachen konnte, legte ich mich neben sie, sie beugte sich über mich und dann küssten wir uns. Ich spürte ihre weichen Lippen auf den meinen und ihre Zunge, die sich vorsichtig, aber zielstrebig in meinen Mund schob.
    Im Nu waren wir nackt, besinnungslos und klammerten uns aneinander. Wir konnten nicht aufhören, uns zu küssen, ich schloss meine Augen und spürte, dass ich dabei war, mich als eigenständiger, in sich ruhender Körper aufzulösen. Ich vergaß, wer ich war, ich vergaß Gregor, ich vergaß meinen Vater.
    Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass Angelina weinte. Das Schnaufen, das in meinen Ohren lustvolles Stöhnen gewesen war, ging in Schniefen über, und als Angelina bemerkte, dass ich sie ansah, heulte sie laut los.
    Die Tränen rannen über ihr Gesicht, während sie mit mir zu reden versuchte. „Verzeih mir“, sagte sie, immer wieder unterbrochen vom Schluchzen, „verzeih mir, aber ich …“
    „Sag nichts“, sagte ich und versuchte, ihren Mund mit meinem zu verschließen.
    „Doch“, erwiderte sie und riss sich nach einigen Augenblicken los, „ich muss dir das doch erklären.“
    „Es ist nicht notwendig“, sagte ich und das schien sie nur noch verzweifelter zu machen. Sie wollte mir unbedingt etwas sagen, setzte beharrlich immer wieder neu an, aber irgendwann brach sie ab und verstummte, weil doch alles aussichtslos war, wie sie meinte, und zu kompliziert und verworren.
    So lagen wir da, in diesem Berliner Zimmer, mein Hals war nass von ihren Tränen, ihre Lippen und ihre Brüste glänzten im Licht, das von draußen hereinfiel.
    Später, als die Müdigkeit kam, standen wir zitternd auf und zogen uns an. Ich brachte sie ins Hotel zurück, begleitete sie
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