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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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Zunge und in der Mundhöhle liegen blieb. Die Pflegerinnen kratzten das Essen wieder heraus, säuberten Vaters Mund und achteten darauf, dass die Luftröhre frei lag. Das Fieber wollte trotz wiederholter Antibiotikagabe nicht mehr zurückgehen, und als Vater auf unsere Fragen und Aufmunterungen nicht mehr reagierte, rief Angelina Gregor an und befahl ihm, in die Klinik zu kommen. Ich hatte sie noch nie in diesem Ton mit ihrem Mann sprechen gehört und ich konnte gut verstehen, dass Gregor eine halbe Stunde später erhitzt und mit rotem Gesicht vor dem Zimmer stand. Er trug seinen Armani-Anzug, fragte, was denn passiert sei, und sagte entschuldigend, dass er direkt aus der CSU -Zentrale komme. Angelina nahm ihn an den Schultern, erklärte ihm in drei Sätzen, dass das sein Vater sei, der hier liege, und er diesen Gedanken endlich zulassen müsse. Er wüsste es doch längst, sagte sie. Dann schob sie ihn ins Zimmer und befahl ihm, er solle das tun, was er bisher versäumt habe, nämlich von seinem Vater Abschied zu nehmen.
    Wir zwei fuhren mit dem Aufzug nach unten und setzten uns in einen der Innenhöfe, der wie ein französischer Garten gestaltet war, mit einem Bassin in der Mitte und einer Hauptachse, welche aus einem schmalen Kiesweg bestand, der über eine Holzbrücke das ovale Bassin querte. Rund um den Teich standen geometrisch beschnittene Ligusterhecken, unterbrochen von grünen Parkbänken, auf denen Patienten in ihren Morgenmänteln saßen oder Angestellte der Klinik, die hier rauchten oder einfach nur vor sich hinstarrten.
    Wenn ich den Kopf zurücklegte, konnte ich das Fenster im vierten Stock sehen, hinter dem Vater röchelte und dabei war, ein zweites Mal zu sterben. Ich kniff die Augen zusammen und wusste nicht, warum ich hoffte, irgendetwas wahrzunehmen hinter den dunklen Scheiben, eine Bewegung, eine Gestalt. Angelina tat es mir gleich und blickte ebenfalls nach oben. Aber nichts rührte sich.
    „Nachher“, sagte Angelina, „nachher fährst du gemeinsam mit uns zurück.“
    „Wir können mit meinem Auto fahren“, sagte ich, „es ist Platz genug für alle.“
    Eine Krankenschwester, die auf der anderen Seite des Teichs saß, winkte uns zu. Sie arbeitete auf der Palliativstation und wir waren uns ein paar Mal an Vaters Bett begegnet. Sie fuhr gemeinsam mit uns wieder nach oben, und im Aufzug schaute ich auf das Namensschild an ihrem Kittel. Sie hieß Irina, genau wie Vaters Lieblingsschwester bei seinem letzten Aufenthalt im Bezirksspital, nur, dass sie viel älter war und beinahe weißblond und auch sonst den Anschein machte, als stamme sie aus Berlin und nicht aus einem Land im Osten.
    Ich fragte sie, woher sie komme.
    „Aus Weißrussland“, antwortete Irina und ging vor uns durch den Gang, direkt auf Vaters Zimmer zu.
    Angelina und ich wollten warten, bis Gregor wieder herauskam, aber dieser hatte das Zimmer bereits verlassen. Er kauerte in der Mauernische, in der ich sonst oft gesessen hatte, und starrte vor sich hin. Er zupfte an seinen Fingernägeln und bemerkte uns erst, als wir vor ihm standen. Und jetzt trat Irina aus dem Zimmer und nickte uns zu.
    „Kommen Sie“, sagte sie mit ruhiger Stimme, „es ist so weit.“
    Als wir über die Schwelle traten, kam uns Klara Hubmann entgegen. Im Vorbeigehen streifte sie meinen Arm und lächelte mir zu. Es war wie ein Lächeln, das jemand hat, der bis ins Innerste hinein mit der Welt im Einvernehmen ist.
    Vater lag auf dem Rücken und atmete nicht mehr. Es war eine eigenartige Stille um ihn. Eine fremde, unwirkliche Abwesenheit von Geräuschen, die sich über alles im Zimmer gelegt hatte, über das Bett und die Stühle, über das Wasserglas und die Schalen auf der Ablage. Und über Vaters Körper unter dem Laken und sein Gesicht, das wie gefroren war.
    Ich hielt mich am Fußende des Bettes fest, spürte die kühlen Eisenstäbe in meinen Händen, und so verharrten wir im Krankenzimmer, das plötzlich ein Totenzimmer geworden war, Irina, daneben Angelina, die Vaters Hand in die ihre genommen hatte und die Lippen aufeinanderpresste, dann ich und hinter meiner Schulter Gregor. Ich spürte den Atem meines Bruders an meinem Hals, seine Atemzüge, die schnell und heftig waren.
    „Komm“, sagte Angelina mit einem Blick auf Gregor, „er ist noch warm.“ Aber Gregor schüttelte den Kopf, er wollte nicht kommen, nicht näher treten, und auch keine tote Hand in die seine nehmen. Er blickte mich hilfesuchend an, ein flehentlicher Blick aus Bruderaugen,
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