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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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und ich legte meine Hand auf seine Schulter.
    „Lass gut sein“, sagte ich, und Angelina ließ es gut sein. Sie beugte sich vorsichtig nach vorne, drückte einen Kuss auf Vaters Stirn und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Schwester Irina musste das Zimmer schon vorher verlassen haben, ich hatte es gar nicht bemerkt.
    Jetzt waren wir allein, mein Bruder und ich, allein mit unserem toten Vater. Wir standen nebeneinander am Fußende des Bettes und konnten unseren Blick nicht von diesem Gesicht nehmen, das immer mehr den Ausdruck einer Maske angenommen hatte, abweisend und kalt.
    „Er ist so hässlich“, flüsterte Gregor.
    „Zum Fürchten“, sagte ich.
    „Das ist nicht unser Vater“, flüsterte Gregor.
    „Nein, das ist er nicht.“
    Ich bemerkte, dass ich genauso flüsterte wie mein Bruder. Wie jeder die Stimme zurücknahm in einem Totenzimmer, vielleicht aus Angst, dass ein lautes Wort die Stille unerträglich machte. Und Gregor flüsterte vielleicht, weil er fürchtete, dass Vater sonst wieder aufwachte. Er hatte ja seine Erfahrungen.
    Wir standen noch eine Weile im Zimmer und starrten auf diesen Körper, der dem unseres Vaters in allem so unheimlich ähnlich war. Und trotzdem war er es nicht, nicht mehr.
    Jemand musste ihm, noch bevor wir ins Zimmer getreten waren, die Augen zugedrückt haben. Der Mund aber war halb geöffnet geblieben und die Nase stach spitz hervor. Ich spürte, wie ich versuchte, das Gesicht dieses Toten zu vergessen, noch während ich es ansah. Dann schloss Gregor mit einer schnellen Bewegung die Knöpfe an seinem Sakko und nickte mir zu. Jetzt war genug, noch ein letzter Blick und wir gingen hinaus. Draußen wartete bereits der Putztrupp, der das Zimmer ausräumen würde.

19
    Wir fuhren zurück ins Zentrum, in die Welt der Lebenden. Es dämmerte bereits und in den Vororten, die wir durchquerten, gingen die Menschen nach Hause, zum Abendbrot, zu ihren Liebsten. Eine Katze lief unvermittelt über die Fahrbahn, ich sah sie erst im letzten Augenblick. Gregor neben mir hielt die Luft an, während ich auf die Bremse stieg. Dann wischte in meinem Augenwinkel ein schwarz-weiß gefleckter Schatten über den Gehsteig und die Mauer eines Gartens entlang; jemand war noch einmal davongekommen.
    Ich drosselte mein Tempo und fuhr auch in den kurzen Waldstücken unter fünfzig. Gregor hatte kein Wort gesagt, seit er zu mir ins Auto gestiegen war, und auch Angelina schwieg. Ich versuchte, nicht an das Gesicht unseres toten Vaters zu denken, sondern mich auf die Straße zu konzentrieren.
    Als ich in den Kreisverkehr rund um die Siegessäule bog, öffnete Angelina ihren Mund und sagte, sie könne jetzt unmöglich auf ihr Zimmer gehen. Gregor drehte sich verwundert um und meinte, was sie sich denn vorstelle. Er würde jetzt keinesfalls unter die Leute gehen, jetzt, nach allem, was passiert war. Nein, ganz im Gegenteil, sagte er, er müsse jetzt unbedingt seine Ruhe haben, nachdenken und allein sein.
    Ich brachte Gregor bis zu seinem Hotel, Angelina stieg ebenfalls aus und begleitete ihren Mann bis zur Drehtür, die in Hotelhalle führte. Sie wechselten ein paar Worte, dann umarmten sie sich. Als Gregor im Aufzug verschwunden war, kam Angelina langsam zum Auto zurück. Sie setzte sich neben mich und fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, sie ins Kino zu begleiten.
    „Nein“, sagte ich, „was willst du sehen?“
    „Egal“, sagte Angelina, „irgendetwas, was mich ablenkt.“
    In einer Nebenstraße fanden wir ein Kino, der Film hatte bereits begonnen und wir schlichen uns nach hinten in die letzte Reihe. Ich versuchte, der Geschichte zu folgen, die hier erzählt wurde, eine Geschichte der Begierde, eine Geschichte zwischen zwei Frauen der Nachkriegszeit, die in ihren Konventionen gefangen blieben und nichts als schmachtende Blicke tauschen konnten. Zwischendurch blickte ich auf Angelina, die reglos in ihrem Sessel saß. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich der Lichtwechsel der Szenen auf der Leinwand und ich fragte mich, was wir hier machten.
    Als der Film zu Ende war, blieben wir noch eine Zeit lang in unseren Sesseln. Ich sah zu, wie die Besucher sich an den Ausgängen stauten, ich versuchte, den Abspann mitzulesen, und wartete darauf, dass irgendwann das Wort „Ende“ oder „The End“ erschien, wie in den alten Filmen, die ich aus dem Fernsehen kannte. Angelina flüsterte die Namen der Tonmeister, Regieassistenten und Komparsen mit, die im Abspann von links nach rechts durchliefen. Es war, als
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