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Berg der Legenden

Berg der Legenden

Titel: Berg der Legenden
Autoren: Jeffrey Archer
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Kollegen empfand, die sich inzwischen dem Gipfel nähern mussten.
    Und dann entdeckte er plötzlich zwei Gestalten, die sich gegen die Silhouette des Nordostgrats abhoben. Während er zusah, holte die größere der beiden die andere ein. Odell sah, dass sie auf der zweiten Stufe standen, etwa 200 Meter vom Gipfel entfernt. Er schaute auf die Uhr, es war zehn vor eins. Sie hatten noch mehr als genug Zeit, um nach oben zu kommen und zu ihrem kleinen Zelt zurückzukehren, ehe die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren.
    Vor Freude musste er einfach auf und ab hüpfen, während er zusah, wie die beiden in eine Nebelwolke hineinschritten und aus seinem Blickfeld verschwanden.
    ***
    Sobald Irvine die Spitze der Zweiten Stufe erreicht hatte, kroch er über einen zerklüfteten Felsen zu George.
    »Wir haben noch etwa zweihundert Meter vor uns«, sagte George und überprüfte seinen Höhenmesser. »Aber denken Sie daran, das entspricht mindestens einer Meile, und ohne Sauerstoff hat Norton nur etwa 40 Meter pro Stunde geschafft. Es könnte also sein, dass wir noch einmal drei Stunden brauchen«, fügte er schwer atmend hinzu, »was bedeutet, dass wir es uns nicht leisten können, Zeit zu vergeuden. Denn wenn wir heute Nachmittag wieder absteigen«, sagte er und deutete nach unten, »will ich sicher sein, dass ich noch ein paar Schritte vor mir erkennen kann.«
    Als George sein Mundstück zurückschob, streckte Irvine ihm die hochgereckten Daumen entgegen. Dann begannen sie den langsamen Marsch entlang einer Gratlinie, die kein Mensch je zuvor beschritten hatte.

60
    8. Juni 1924, 14:07 Uhr
    Als George erneut aufblickte, schien ihm, als befände sich der Gipfel in greifbarer Nähe, obwohl der Höhenmesser ihn warnte, dass sie immer noch mehr als einhundert Höhenmeter vor sich hatten. So atemberaubend nahe, obgleich sie wesentlich länger gebraucht hatten als erwartet.
    Nachdem sie die Zweite Stufe überwunden hatten, hatten sich die beiden Männer mühsam den schmalen Nordostgrat entlanggekämpft, in dem sicheren Wissen, dass der Schnee zu beiden Seiten den Traufen eines Daches glich, unter denen sich nichts als Luft befand. Sie brauchten nur einmal in die eine oder andere Richtung fehlzutreten, und dann …
    Der einladend aussehende, frische, unberührte Schnee war, wie sich herausgestellt hatte, mehr als einen halben Meter tief, so dass es beinahe unmöglich war, einen Schritt nach vorn zu machen, und wenn sie es schafften, kamen sie nur wenige Zentimeter voran, ehe ihre Füße erneut im Schnee versanken.
    Zweihundertundelf Schritte später – George hatte jeden einzelnen gezählt – gab die Schneewehe sie endlich frei. Doch nun stand er vor einer senkrechten Felswand, die schon an einem warmen Sommermorgen in 1000 Meter Höhe eine Herausforderung darstellen würde, und erst recht jetzt, wo sein Körper schweißgebadet, die Glieder fast erfroren und er selbst so erschöpft war, dass er sich nur noch niederlegen und schlafen wollte. Doch er wusste, dass er erfrieren würde, sobald er sich für länger als ein paar Minuten ausruhte.
    George erwog sogar umzukehren, solange noch die Aussicht bestand, sicher vor Sonnenuntergang zum Zelt zu gelangen. Doch dann würde er sich den Rest seines Lebens dafür rechtfertigen müssen, warum er, den Sieg bereits in greifbarer Nähe, im letzten Moment aufgegeben hatte. Und, noch schlimmer, jeden Abend, wenn er einschlief, würde er davon träumen, diese letzten 100 Meter zu erklimmen, nur um in kalten Schweiß gebadet aus dem Albtraum hochzuschrecken.
    Er drehte sich um und sah einen erschöpften Irvine, der seinen Fuß aus dem Schnee zog, nur um ungläubig auf die Felswand vor ihnen zu starren. Einen Moment lang zögerte George. Hatte er das Recht, Irvines Leben genau wie sein eigenes aufs Spiel zu setzen? Sollte er, selbst jetzt noch, vorschlagen, dass der junge Mann umkehrte, während er allein weiterging, oder dass er eine Pause machte und auf seine Rückkehr warte? Er verscheuchte diesen Gedanken. Irvine hatte es verdient, und es war sein gutes Recht, die Siegeslorbeeren mit ihm zu teilen. George entfernte sein Mundstück und sagte: »Wir sind fast da, mein Junge. Dieser Felsen ist das letzte Hindernis vor dem Gipfel.« Irvine lächelte schwach.
    George wandte sich um, um den steilen Felsen zu betrachten. Er war mit Eis bedeckt, das von einem Jahr zum nächsten niemals schmolz. George suchte nach einer Stelle, wo er Halt finden könnte. Normalerweise suchte er seinen
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