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Berg der Legenden

Berg der Legenden

Titel: Berg der Legenden
Autoren: Jeffrey Archer
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Schritt zurück und spürte sofort, wie sich das Seil spannte. Irvine musste der Abstieg noch schwerer fallen als ihm, wenn das überhaupt möglich war. Probeweise stellte George seinen linken Fuß auf den Eishang, der jetzt noch heimtückischer war als zuvor. Er versuchte, die Griffe und Tritte zu benutzen, die er auf dem Weg nach oben hinterlassen hatte, aber sie begannen bereits wieder zuzufrieren. Obwohl er mehrmals das Gleichgewicht verlor und auf sein Hinterteil fiel, schaffte er es weiterzugehen, bis er sicher auf dem Fleckchen steinigen Bodens stand. Und wieder lag die senkrechte, vereiste Felswand vor ihm, nur dass er dieses Mal nach unten schaute. George wusste, dass dies der gefährlichste Teil des Abstiegs werden würde, und er musste davon ausgehen, dass Irvine in noch üblerer Verfassung war als er selbst. Wenn einer von ihnen auch nur den geringsten Fehler machte, würden sie beide in den Tod stürzen. Er drehte sich zu seinem Partner um und lächelte. Zum ersten Mal erwiderte Irvine das Lächeln nicht.
    Mit beiden Händen packte George die Oberkante des Felsens und ließ sich langsam ein paar Zentimeter ab, auf der Suche nach der kleinsten Vertiefung, die ihm einen sicheren Halt bot. Sobald sein Fuß Halt gefunden hatte, senkte er das andere Bein. Plötzlich spürte er, wie das Seil erschlaffte. Er schaute nach oben und sah, dass Irvine auf einem Stück Eis den Halt verloren hatte und nach hinten fiel. Einen Augenblick später rauschte sein Körper an George vorbei.
    George wusste, dass er nicht darauf hoffen konnte, sich an einer vereisten, senkrechten Felswand festzuklammern, während er an einen ein Meter siebenundachtzig großen, einhundert Kilogramm schweren Mann angeseilt war, der sich im freien Fall befand. Und schon wurde er vom Felsen gerissen. Er hatte nicht einmal die Gelegenheit, an den Tod zu denken, als er Irvine nach unten folgte, tiefer, tiefer, tiefer …
    Eine Sekunde später landeten beide in der fünfzig Zentimeter dicken Schneewehe, mit der sie sich beim Aufstieg so herumgeplagt hatten und die ihnen jetzt als lebensrettendes Polster diente. Nach einem kurzen Moment betäubten Schweigens begannen sie beide zu lachen, wie zwei unartige Schuljungen, die vom Baum gefallen und im Weihnachtsschnee versunken waren.
    Langsam stand George auf und überprüfte seine Gliedmaßen. Schwankend stand er da und stellte erfreut fest, dass Irvine bereits wieder auf den Beinen war. Die Männer fielen einander in die Arme, und George klopfte seinem jungen Kollegen auf die Schulter. Schließlich ließ er ihn los und streckte Irvine den hochgestreckten Daumen entgegen, ehe er sich erneut an den Abstieg machte.
    George wusste, dass ihn jetzt nichts mehr aufhalten würde.

62
    Montag, 9. Juni 1924
    Als Odell am folgenden Tag um fünf Uhr aufstand, fiel sein Blick als Erstes auf Noel, der sein Stativ auf einer kleinen, schmalen Erhebung aufgebaut hatte. Die massive Linse seiner Kamera war auf Lager VI gerichtet, bereit, bei der geringsten Bewegung zum Leben zu erwachen. Kurz darauf kroch Norton aus dem Zelt und gesellte sich zu ihnen.
    »Guten Morgen, Odell«, sagte er gutgelaunt. »Ich gebe zu, dass Sie im Moment noch nicht mehr sind als ein verschwommener Schemen, aber zumindest erkenne ich den Unterschied zwischen Ihnen und Noel – so gerade eben.«
    »Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Noel, »denn ich hoffe, es dauert nicht mehr lange, bis George und Sandy am Horizont auftauchen.«
    »Zählen Sie besser nicht darauf«, sagte Norton. »Mallory gehörte noch nie zu den Frühaufstehern, und ich schätze, der junge Irvine wird tief und fest schlafen.«
    »Ich kann nicht länger untätig hier herumstehen und auf sie warten«, sagte Odell. »Ich gehe hoch, um ihnen etwas zum Frühstück zu kochen, und dann begleite ich sie im Triumph nach unten.«
    »Warten Sie, altes Haus«, sagte Noel. »Können Sie mir einen Gefallen tun, sobald Sie oben sind?« Odell drehte sich um und sah ihn an. »Können Sie ihre Schlafsäcke aus dem Zelt holen und sie nebeneinander in den Schnee legen, damit wir wissen, dass sie den Gipfel erreicht haben?«
    »Und wenn nicht?« Er hielt inne. »Oder noch schlimmer?«
    »Dann legen Sie die Schlafsäcke so, dass sie ein Kreuz bilden«, sagte Noel ruhig.
    Odell nickte, setzte seinen Rucksack auf und begann zum zweiten Mal in drei Tagen zum Lager VI aufzusteigen. Doch dieses Mal verschlechterte sich das Wetter von Minute zu Minute. Innerhalb weniger Augenblicke kämpfte er gegen
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