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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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ihr Herz unter meiner Hand aufhört zu schlagen – spüre dieses winzige Aussetzen, diese hohle Ruhe, diesen endgültigen Verlust.

EPILOG
    Wenn auf dem Bürgersteig
    Bebende Flammen des Lebens,
    Menschen um mich herum flackern,
    Vergesse ich meine Trauer,
    Die Lücke im Sternbild,
    Den Ort, wo einst ein Stern war.
    D. H. LAWRENCE,
    â€ºSubmergence‹

KATE
    2010 Es müßte eine Verjährungsfrist für Trauer geben. Ein Regelwerk, in dem steht, daß man jeden Tag weinend aufwachen darf, aber nur einen Monat lang. Daß du nach zweiundvierzig Tagen nicht mehr mit Herzrasen herumfährst, weil du sicher bist, ihre Stimme gehört zu haben, die deinen Namen ruft. Daß du nicht mit einem Bußgeld belegt wirst, wenn du das Bedürfnis empfindest, ihren Schreibtisch auszuräumen, ihre gemalten Bilder vom Kühlschrank zu entfernen, ihr Schulfoto im Vorbeigehen umzudrehen – und sei es auch nur, weil der Blick darauf die Wunde wieder aufreißt. Daß es nicht schlimm ist, die Jahre, die sie nicht mehr da ist, so zu zählen, wie wir früher ihre Geburtstage gezählt haben.
    Noch lange danach behauptete mein Vater, er könne Anna am Nachthimmel sehen. Mal war es ihr Augenzwinkern, mal ihr Profil. Er ließ sich nicht davon abbringen, daß Sterne geliebte Menschen waren, die in Sternbildern nachgezeichnet wurden, damit sie ewig weiterlebten. Meine Mutter glaubte lange Zeit, daß Anna zu ihr zurückkommen würde. Sie fing an, nach Zeichen Ausschau zu halten – Pflanzen, die zu früh blühten, Eier mit doppeltem Dotter, verschüttetes Salz in Form von Buchstaben.
    Und ich, tja, ich fing an, mich selbst zu hassen. Es war natürlich alles meine Schuld. Wenn Anna nie diesen Antrag gestellt hätte, wenn sie nicht in dem Gerichtsgebäude gewesen wäre und mit ihrem Anwalt irgendwelche Papiere unterschrieben hätte, dann wäre sie nicht in diesem bestimmten Moment an dieser bestimmten Kreuzung gewesen. Dann wäre sie noch da, und ich wäre es, die ihr ständig im Kopf herumspukt.
    Ich war noch lange krank. Die Transplantation wäre fast fehlgeschlagen, und dann begann ich, für alle unerklärlich, den langen steilen Aufstieg. Seit meinem letzten Rückfall sind acht Jahre vergangen, und das kann sich nicht mal Dr. Chance erklären. Er glaubt, es liegt an einem Zusammenwirken von ATRA und der Arsentherapie – einem nachträglichen Zusatzeffekt –, aber ich weiß es besser. Es liegt daran, daß eine gehen mußte, und Anna hat meinen Platz eingenommen.
    Trauer ist etwas Seltsames, wenn sie unerwartet kommt. Sie ist wie ein Pflaster, das abgerissen wird und die oberste Schicht einer Familie mitnimmt. Und darunter ist keine Familie schön, unsere bildet da keine Ausnahme. Es gab Zeiten, da blieb ich tagelang in meinem Zimmer und behielt die Kopfhörer auf, und sei es auch nur, damit ich meine Mutter nicht mehr weinen hören mußte. Es gab Wochen, in denen mein Vater rund um die Uhr arbeitete, damit er nicht in ein Haus heimkehren mußte, das plötzlich zu groß für uns schien.
    Und dann stellte meine Mutter eines Morgens fest, daß wir alles Eßbare im Haus verzehrt hatten, bis hin zu den letzten verschrumpelten Rosinen und Knäckebrotresten, und sie fuhr zum Supermarkt. Mein Vater bezahlte ein paar Rechnungen. Ich setzte mich vor den Fernseher und sah mir eine alte ›Hoppla-Lucy‹-Sendung an und mußte plötzlich lachen.
    Sofort hatte ich das Gefühl, ein Heiligtum entweiht zu haben. Ich legte mir verlegen die Hand vor den Mund. Jesse saß neben mir auf der Couch, und er sagte einfach: »Sie hätte das auch lustig gefunden.«
    Es ist nämlich so, ganz gleich, wie sehr man an der bitteren, wehen Erinnerung festhalten will, daß jemand diese Welt verlassen hat, man selbst ist noch da. Und der reine Akt zu leben ist wie eine steigende Flut: Zuerst scheint sich gar nichts zu verändern, und dann blickt man eines Tages nach unten und sieht, wieviel Schmerz weggespült wurde.
    Ich frage mich, was sie wohl alles von uns mitbekommt. Ob sie weiß, daß wir lange Zeit engen Kontakt zu Campbell und Julia hatten, sogar auf ihrer Hochzeit waren. Ob sie versteht, daß wir die beiden deshalb nicht mehr sehen, weil es einfach zu weh tat, denn selbst wenn wir nicht von Anna sprachen, war sie in den Leerstellen zwischen den Wörtern spürbar.
    Ich frage mich, ob sie bei
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