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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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»Vierzehn Karat Gold«, preise ich das Schmuckstück an. »Kaum getragen.« Das ist gelogen. Bis heute morgen habe ich es sieben Jahre lang kein einziges Mal abgenommen. Mein Vater hat es mir geschenkt, als ich sechs war, nach der Knochenmarkspende, und er sagte, ein Mädchen, das seiner Schwester so ein großartiges Geschenk macht, hätte selbst auch eins verdient. Als ich es da auf der Theke liegen sehe, fühlt sich mein Hals fröstelig und nackt an.
    Der Pfandleiher hält sich eine Lupe vors Auge, das jetzt fast normal groß aussieht. »Ich geb dir zwanzig.«
    Â» Dollar? «
    Â»Nein, Pesos. Was hast du denn gedacht?«
    Â»Das Ding ist fünfmal soviel wert!« Ich rate.
    Der Pfandleiher zuckt die Achseln. »Du brauchst das Geld, nicht ich.«
    Ich nehme das Medaillon, um das Geschäft resigniert zu besiegeln, als etwas sehr Merkwürdiges geschieht – meine Hand verkrampft sich so fest wie ein Schraubstock. Ich werde rot im Gesicht von der Anstrengung, meine Finger zu öffnen. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis das Medaillon endlich in der ausgestreckten Hand des Pfandleihers landet. Seine Augen ruhen unverwandt auf meinem Gesicht und blicken jetzt sanfter. »Sag ihnen, du hast es verloren«, rät er mir, ein guter Rat als Gratiszugabe.
    Wenn man den Begriff »Laune der Natur« erklären wollte, böte sich eine Beschreibung von Anna Fitzgerald an. Nicht nur äußerlich: mager wie ein Flüchtlingskind, flach wie ein Brett, schmutzigblondes Haar, auf den Wangen Hunderte von Sommersprossen, die auch nicht mit Hilfe von Zitronensaft oder Sonnenmilch blasser werden. Nein, am Tag meiner Geburt war Gott anscheinend nicht gut drauf, weil er mir nämlich zu diesen tollen körperlichen Eigenschaften auch noch den entsprechenden Hintergrund mitgegeben hat – die Familie, in die ich hineingeboren wurde.
    Meine Eltern gaben sich alle Mühe, ein normales Familienleben zu führen, aber das ist ein relativer Begriff. Die Wahrheit ist, ich hatte nie eine richtige Kindheit. Zugegeben, die hatten Kate und Jesse auch nicht. Vielleicht hatte mein Bruder die ein oder andere sonnige Stunde in den vier Jahren seines Lebens, bevor Kate krank wurde, aber seitdem sind wir zu sehr damit beschäftigt, ständig auf das Schlimmste gefaßt zu sein, um unbeschwert aufzuwachsen.
    Die meisten kleinen Kinder sehen sich ja gerne als Zeichentrickfiguren – ihr wißt schon, wenn ihnen ein Amboß auf den Kopf fällt, rappeln sie sich einfach wieder auf und laufen weiter. Ich dagegen hab das nie geglaubt. Wie denn auch, wo wir doch jeden Abend am Tisch für den Tod mitgedeckt haben?
    Kate hat akute promyelozytäre Leukämie. Na ja, so ganz stimmt das nicht – im Augenblick hat sie sie nicht, aber die Krankheit schlummert unter ihrer Haut wie ein Bär, der Winterschlaf hält und irgendwann wieder losbrüllt. Sie wurde krank, als sie zwei war; jetzt ist sie sechzehn. Molekularer Rückfall und Granulozyten und Portkatheter – solche Wörter gehören fest zu meinem Vokabular, obwohl sie in keiner Klassenarbeit vorkommen. Ich bin ein allogener Spender – ein Geschwister mit hundertprozentiger Übereinstimmung. Wenn Kate Leukozyten oder Stammzellen oder Knochenmark braucht, um ihrem Körper weiszumachen, er sei gesund, bin ich ihr Lieferant. Fast jedes Mal, wenn Kate ins Krankenhaus muß, lande ich auch dort.
    Das alles bedeutet nichts, außer daß ihr nicht alles glauben sollt, was ihr über mich hört, schon gar nicht das, was ich euch selbst erzähle.
    Als ich die Treppe runtergehe, kommt meine Mutter schon wieder in einem neuen Ballkleid aus ihrem Zimmer. »Ah«, sagt sie und dreht mir den Rücken zu. »Zu dir wollte ich gerade.«
    Ich mache ihr den Reißverschluß zu, und sie dreht sich einmal im Kreis. Meine Mutter könnte wunderschön sein, wenn sie in das Leben von jemand anderem hineingezaubert würde. Sie hat langes, dunkles Haar und die eleganten Schlüsselbeine einer Prinzessin, aber ihre Mundwinkel zeigen ständig nach unten, als hätte sie gerade eine bittere Nachricht geschluckt. Sie hat nicht viel Zeit für sich, da ihr Terminkalender sich dramatisch ändern kann, wenn meine Schwester plötzlich einen Bluterguß oder Nasenbluten bekommt, aber die wenige Zeit, die sie hat, verbringt sie im Internet auf der Webseite Bluefly.com und bestellt todschicke
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