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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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vom Baß aus Jesses Stereoanlage vibriert. Es dauert fast fünf geschlagene Minuten, bis er mein Klopfen hört. »Was ist?« faucht er, als er die Tür einen Spalt öffnet.
    Â»Kann ich reinkommen?«
    Er überlegt kurz, tritt dann zurück und läßt mich herein. Das Zimmer ist ein Meer aus schmutziger Wäsche und Zeitschriften und Pappschachteln vom Chinesen. Es riecht wie ein verschwitzter Turnschuh. Die einzige saubere Stelle ist das Regal, wo Jesse seine besondere Sammlung aufbewahrt – ein silberner springender Jaguar, ein Mercedes-Stern, das Pferd eines Ford Mustang – Kühlerfiguren, die er angeblich irgendwo gefunden hat, aber ich bin nicht so blöd, daß ich ihm das abnehme.
    Versteht mich nicht falsch – es ist nicht so, daß Jesse meinen Eltern egal wäre oder daß es sie nicht interessiert, wenn er sich Ärger einhandelt, sie haben einfach nur keine Zeit, sich darum zu kümmern, weil das Problem auf der Dringlichkeitsliste weiter unten steht.
    Jesse ignoriert mich und macht weiter mit dem, womit er auf der anderen Seite dieses Chaos zugange war. Mein Blick fällt auf einen Wasserkocher, der vor einigen Monaten spurlos aus der Küche verschwunden ist und jetzt auf Jesses Fernseher steht. Vom Deckel aus führt ein dünnes Kupferrohr nach unten durch einen Plastikmilchkrug voller Eis und weiter in ein Einmachglas. Jesse ist vielleicht ein verkappter Krimineller, aber er ist ein Genie. Als ich die Vorrichtung anfassen will, dreht Jesse sich um. »He!« Er kommt förmlich über die Couch geflogen und schlägt meine Hand weg. »Du ruinierst mir noch die Kühlschlange.«
    Â»Das Ding ist doch wohl nicht das, wofür ich es halte?«
    Ein freches Grinsen schleicht sich in sein Gesicht. »Kommt drauf an, wofür du es hältst.« Er nimmt das Einmachglas, so daß die Flüssigkeit jetzt auf den Teppich tropft. »Probier mal.«
    Für einen Destillierapparat Marke Eigenbau ist der Selbstgebrannte nicht von schlechten Eltern. Ein Inferno rast mir durch Bauch und Beine, und ich sinke auf die Couch nieder. »Ekelhaft«, keuche ich.
    Jesse lacht und nimmt auch einen Schluck. »Und was willst du von mir?«
    Â»Wie kommst du darauf, daß ich was von dir will?«
    Â»Weil sich keiner von euch hier blicken läßt, nur um mich zu besuchen«, sagt er und setzt sich auf die Armlehne der Couch. »Und wenn es um Kate ginge, hättest du’s schon gesagt.«
    Â»Aber es geht um Kate. Indirekt.« Ich drücke meinem Bruder die Zeitungsausschnitte in die Hand. Sie können die Sache besser erklären als ich. Er überfliegt sie, blickt mir dann in die Augen. In seinen ist ein Hauch Silber, was so verblüffend ist, daß du manchmal, wenn er dich direkt ansieht, völlig vergißt, was du eigentlich sagen wolltest.
    Â»Leg dich nicht mit dem System an, Anna«, sagt er verbittert. »Wir haben hier alle unsere festen Rollen. Kate spielt die Märtyrerin. Ich bin die große Enttäuschung. Und du, du bist der Friedensengel.«
    Er glaubt mich zu kennen, aber das gilt auch umgekehrt – und wenn es um Spannungen geht, kann Jesse nicht widerstehen. Ich blicke ihn unverwandt an. »Wer sagt das?«
    Jesse ist damit einverstanden, auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude auf mich zu warten. Er tut tatsächlich, was ich ihm sage, und das ist bisher so gut wie noch nie vorgekommen. Ich gehe nach vorn zum Haupteingang, der von zwei häßlichen Figuren bewacht wird.
    Die Kanzlei von Campbell Alexander liegt im zweiten Stock. Die Wände sind holzgetäfelt und haben die Farbe einer Fuchsstute, und als ich auf den dicken Orientteppich auf dem Boden trete, sinken meine Turnschuhe zwei Zentimeter ein. Die schwarzen Pumps der Sekretärin sind so glänzend poliert, daß ich mein Gesicht darin sehen kann. Ich schiele nach unten zu meinen abgeschnittenen Jeans und den Sneakers, die ich letzte Woche aus Langeweile mit einem Textmarker tätowiert habe.
    Die Sekretärin hat einen perfekten Teint und beeindruckend geschwungene Augenbrauen und einen honigsüßen Mund, und den benutzt sie, um den Menschen, mit dem sie gerade telefoniert, nach Strich und Faden runterzuputzen. »Das kann ich unmöglich einem Richter sagen. Bloß weil Sie keine Lust haben, sich Klemans Gebrüll anzuhören, muß ich das noch lange nicht … nein, die Gehaltserhöhung war für die
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