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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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Abendkleider für Veranstaltungen, die sie nie besuchen wird. »Wie seh ich aus?« fragt sie.
    Das Kleid hat alle Farben eines Sonnenuntergangs und ist aus einem Stoff, der raschelt, wenn sie sich bewegt. Es ist trägerlos, ein Kleid für eine Filmschauspielerin, die einen roten Teppich entlangstolziert, völlig unpassend für eine Stadtrandsiedlung in Upper Darby, Rhode Island. Meine Mutter dreht ihre Haare zu einem Knoten und hält es hoch. Auf ihrem Bett liegen drei andere Kleider – eins eng geschnitten und schwarz, eins mit Glasperlen besetzt, eins, das unglaublich klein wirkt. »Du siehst …«
    Müde aus. Das Wort drängt sich mir auf die Zunge.
    Meine Mutter wird ganz still, und ich denke schon, daß ich es unabsichtlich ausgesprochen habe. Sie hält eine Hand hoch, damit ich leise bin, Richtung Tür. »Hast du das gehört?«
    Â»Was gehört?«
    Â»Kate.«
    Â»Ich hab nichts gehört.«
    Aber sie verläßt sich nicht auf mich. Wenn es um Kate geht, verläßt sie sich nämlich auf niemanden. Sie marschiert die Treppe hoch, und als sie die Tür von unserem gemeinsamen Zimmer öffnet, findet sie meine Schwester in Tränen aufgelöst auf dem Bett, und schon stürzt die Welt wieder ein. Mein Vater, ein Hobbyastronom, hat mir mal die schwarzen Löcher erklärt. Sie sind so schwer, daß sie alles in sich aufsaugen, sogar Licht, direkt in ihre Mitte. Augenblicke wie jetzt sind genauso ein Vakuum; egal, woran du dich festklammerst, du wirst hineingesogen.
    Â»Kate!« Meine Mutter sinkt auf den Boden, das alberne Kleid wie eine Wolke um sie herum. »Kate, Schätzchen, tut dir was weh?«
    Kate hält ein Kissen auf den Bauch gedrückt, und Tränen strömen ihr übers Gesicht. Ihr helles Haar klebt ihr in feuchten Strähnen an den Wangen, und sie atmet gepreßt. Ich stehe wie erstarrt an der Tür und warte auf Anweisungen: Ruf Daddy an. Ruf einen Krankenwagen. Ruf Dr. Chance an . Schließlich schüttelt meine Mutter Kate sogar, um eine Antwort zu bekommen. »Preston«, schluchzt sie. »Er hat sich endgültig von Serena getrennt.«
    Erst da bemerken wir den laufenden Fernseher. Auf dem Bildschirm wirft ein blonder, heißer Typ einer Frau, die fast genau wie meine Schwester Rotz und Wasser heult, einen schmachtenden Blick zu und knallt dann die Tür hinter sich zu. »Aber wo tut’s dir weh?« will meine Mutter wissen, überzeugt, daß es für die Tränen einen ernsteren Grund geben muß.
    Â»Gott, wie traurig«, sagt Kate schniefend. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was Serena und Preston alles durchgemacht haben?«
    Die Faust in mir lockert sich, jetzt, da ich weiß, daß alles in Ordnung ist. Der Normalzustand bei uns zu Hause ist wie eine zu kurze Bettdecke – manchmal deckt sie dich schön zu, und dann wieder bibberst du vor Kälte, und das schlimmste ist, daß du nie weißt, was von beidem der Fall sein wird. Ich setze mich ans Fußende von Kates Bett. Ich bin zwar erst dreizehn, aber größer als sie, und hin und wieder werde ich für die ältere Schwester gehalten. In diesem Sommer war sie schon nacheinander in Callahan, Wyatt und Liam verschossen, die männlichen Stars der Seifenoper. Jetzt ist Preston anscheinend ihr Favorit. »Die Kidnappingdrohung war echt heftig«, sage ich. Die Episode habe ich mitbekommen, weil ich für Kate ein paar Folgen aufgenommen habe, als sie zur Dialyse mußte.
    Â»Und dann hätte sie fast aus Versehen seinen Zwillingsbruder geheiratet«, fügt Kate hinzu.
    Â»Vergeßt nicht, daß er bei dem Bootsunfall ums Leben gekommen ist. Jedenfalls für zwei Monate.« Meine Mutter steuert auch etwas bei, und mir fällt ein, daß sie die Sendung ja auch mal angeguckt hat, bei Kate im Krankenhaus.
    Jetzt erst scheint Kate das Outfit meiner Mutter zu bemerken. »Was hast du denn da an?«
    Â»Ach das. Das schick ich zurück.« Sie stellt sich vor mich, damit ich ihr den Reißverschluß öffnen kann. Jeder anderen Mutter mit so einem Versandhausbestellzwang würde man dringend zu einer Therapie raten. Bei meiner Mutter kann man es wahrscheinlich als gesunden Ausgleich betrachten. Ich frage mich, was ihr daran gefallen mag; die Illusion, für eine Weile in die Haut von jemand anderem zu schlüpfen, oder die Möglichkeit, etwas zurückschicken zu können, wenn es ihr
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