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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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Endes geht es hier auch gerade darum: um den Moment, in dem ein Kind womöglich klüger ist als seine Eltern.
    Ich weiß, daß Anna die Entscheidung, dieses Verfahren anzustrengen, nicht aus all den egozentrischen Gründen getroffen hat, die man von einer Dreizehnjährigen erwarten kann. Sie hat es nicht getan, weil sie so sein wollte wie andere Kinder in ihrem Alter. Sie hat es nicht getan, weil sie es satt hatte, bestürmt und bedrängt zu werden. Sie hat es nicht getan, weil sie Angst vor den Schmerzen hatte.«
    Ich drehe mich um und lächele ihr zu. »Soll ich Ihnen was sagen? Ich würde mich nicht wundern, wenn Anna ihrer Schwester doch noch die Niere spendet. Aber was ich denke ist unwichtig. Richter DeSalvo, bei allem Respekt, auch was Sie denken ist unwichtig. Was Sara und Brian und Kate Fitzgerald denken ist unwichtig. Wichtig ist allein, was Anna denkt.«
    Richter DeSalvo ordnet eine fünfzehnminütige Pause an, ehe er seine Entscheidung bekanntgibt, und ich nutze die Zeit, um mit dem Hund rauszugehen. Wir gehen einmal um die kleine Rasenfläche hinter dem Garrahy-Gebäude herum, während Vern ein Auge auf die Journalisten hat, die auf das Urteil warten. »Nun mach schon«, sage ich, als Judge sich auf der Suche nach der bestmöglichen Stelle zum vierten Mal im Kreis dreht. »Es sieht dich doch keiner.«
    Aber wie sich herausstellt, stimmt das nicht ganz. Ein kleiner Junge, höchstens drei oder vier, reißt sich von seiner Mutter los und kommt auf uns zugelaufen. »Wauwau!« schreit er. Er streckt in eifriger Freude die Hände aus, und Judge drängt sich dichter an mich.
    Seine Mutter ist gleich wieder bei ihm. »Entschuldigen Sie. Mein Sohn macht gerade die Hundephase durch. Dürfen wir ihn streicheln?«
    Â»Nein«, sage ich automatisch. »Er ist ein Servicehund.«
    Â»Ach so.« Die Frau richtet sich auf, zieht ihren Sohn weg. »Aber Sie sind doch gar nicht blind.«
    Ich bin Epileptiker, und der Hund warnt mich, wenn sich ein Anfall ankündigt . Ich überlege, ob ich es nicht einfach mal sagen soll, eine Premiere. Aber andererseits, man muß doch auch über sich selbst lachen können, oder? »Ich bin Anwalt«, sage ich und grinse sie an. »Der Hund wittert Unfälle, aus denen ich Kapital schlagen kann.«
    Judge und ich spazieren davon, und ich pfeife vor mich hin.
    Als Richter DeSalvo wieder in den Saal kommt, hat er ein gerahmtes Foto seiner toten Tochter dabei, und ich weiß, daß ich den Fall verloren habe. »Während der Zeugenvernehmungen ist mir eines aufgefallen«, beginnt er, »daß wir nämlich alle im Saal in eine Debatte über die Qualität des Lebens im Gegensatz zum Schutz des Lebens geraten sind. Zweifelsohne waren die Fitzgeralds immer in dem Glauben, daß es höchste Priorität hatte, Kate als Teil ihrer Familie am Leben zu erhalten – doch inzwischen ist der Schutz von Kates Leben zutiefst verwoben mit der Qualität von Annas Leben, und es ist meine Aufgabe, darüber zu befinden, ob diese beiden Konzepte nicht doch voneinander getrennt werden können.«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich glaube kaum, daß einer unter uns in der Lage ist zu entscheiden, welches von beiden wichtiger ist – am wenigsten ich selbst. Ich bin Vater. Meine Tochter Dena wurde von einem betrunkenen Autofahrer getötet, als sie zwölf Jahre alt war, und als ich an jenem Abend zum Krankenhaus eilte, hätte ich alles getan, um noch einen weiteren Tag mit ihr zu haben. Die Fitzgeralds sind seit vierzehn Jahren in dieser Lage – sie tun alles, um ihre Tochter noch ein wenig länger am Leben zu halten. Ich respektiere ihre Entscheidungen. Ich bewundere ihren Mut. Ich beneide sie darum, daß sie diese Möglichkeiten überhaupt hatten. Aber wie beide Anwälte bereits festgestellt haben, geht es nicht mehr um Anna und eine Niere, es geht darum, wie diese Entscheidungen getroffen werden und wie wir entscheiden, wer sie treffen sollte.«
    Er räuspert sich. »Die Antwort darauf lautet, daß es keine befriedigende Antwort gibt. Und deshalb müssen wir uns als Eltern, als Ärzte, als Richter und als Gesellschaft damit begnügen, halbwegs angemessene Entscheidungen zu treffen, die uns nachts nicht den Schlaf rauben – weil Moral wichtiger ist als Ethik und Liebe wichtiger ist als das Gesetz.«
    Richter DeSalvo richtet den Blick auf Anna, die unruhig
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