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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester
Autoren: Jodi Picoult
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mußte, was getan werden konnte, irgendwie behindert und gefährdet haben?
    In diesem Moment höre ich Campbell Alexander und das Geräusch von irgend etwas, das gegen eine Wand geschleudert wird. »Himmelherrgott«, schreit er. »Sagen Sie mir einfach, ob sie hierhergebracht wurde!«
    Er kommt aus der Tür eines anderen Schockraumes gestürmt, einen Arm in Gips, die Kleidung voller Blut. Der Hund humpelt neben ihm her. Sofort fällt Campbells Blick auf mich.
    Â»Wo ist Anna?« fragt er.
    Ich antworte nicht, was soll ich auch sagen? Mehr ist nicht nötig, er versteht sofort. »Oh Gott«, flüstert er. »Oh Gott, bitte nicht.«
    Der Arzt kommt aus Annas Zimmer. Er kennt mich; an vier Abenden in der Woche bin ich hier. »Brian«, sagt er nüchtern, »sie reagiert nicht auf Schmerzstimuli.«
    Der Laut, den ich ausstoße, ist primitiv, unmenschlich, wissend. »Was bedeutet das?« Saras Worte hacken auf mich ein. »Was hat er gesagt, Brian?«
    Â»Annas Kopf ist mit enormer Wucht gegen die Scheibe geschlagen, Mrs. Fitzgerald. Der Aufprall hat eine tödliche Kopfverletzung verursacht. Sie wird im Augenblick beatmet, aber sie zeigt keinerlei Anzeichen irgendeiner neurologischen Aktivität … sie ist hirntot. Es tut mir leid«, sagt er. »Es tut mir ehrlich leid.« Er zögert, blickt von mir zu Sara. »Ich weiß, Sie wollen in diesem Moment nicht über so etwas nachdenken, aber die Zeitspanne ist sehr kurz … wäre eine Organspende für Sie denkbar?«
    Am Nachthimmel gibt es Sterne, die heller leuchten als die anderen, und wenn man sie durch ein Teleskop betrachtet, merkt man, daß es sich um Zwillinge handelt. Die beiden Sterne umkreisen einander, und manchmal brauchen sie dafür fast hundert Jahre. Sie produzieren eine so große Anziehungskraft, daß um sie herum kein Raum für irgendwas anderes ist. So kann es zum Beispiel sein, daß man einen blauen Stern betrachtet und erst nach einer Weile erkennt, daß er einen weißen Zwerg zum Gefährten hat – daß der eine so hell strahlt, daß man den zweiten erst bemerkt, wenn es schon zu spät ist.
    Campbell ist es, der dem Arzt schließlich antwortet. »Ich habe Handlungsvollmacht für Anna«, erklärt er, »nicht ihre Eltern.« Er blickt von mir zu Sara. »Und da oben liegt ein Mädchen, das eine Niere braucht.«
    SARA
    In unserer Sprache gibt es Waisen und Witwen, aber es gibt kein Wort für eine Mutter, die ein Kind verliert.
    Sie bringen sie wieder zu uns herunter, nachdem die Spenderorgane entnommen worden sind. Ich bin die letzte, die hineingeht. Auf dem Gang sind schon Jesse und Zanne und Campbell und einige von den Schwestern, die uns gut kennen, und sogar Julia Romano – all die Menschen, die Abschied nehmen wollten.
    Brian und ich betreten den Raum, in dem Anna klein und reglos auf dem Krankenhausbett liegt. Ein Tubus führt in ihre Kehle, eine Maschine atmet für sie. Es bleibt uns überlassen, sie abzustellen. Ich setze mich auf den Rand des Bettes und nehme Annas Hand. Sie fühlt sich noch warm an, ist noch ganz weich in meiner. Nach all den Jahren, in denen ich einen Moment wie diesen erwartet habe, merke ich, daß ich vollkommen hilflos bin. Als wollte man den Himmel mit einem Buntstift anmalen; es gibt keine Sprache für einen so großen Schmerz. »Ich kann es nicht«, flüstere ich.
    Brian steht hinter mir. »Liebling, sie ist nicht mehr hier. Die Maschine hält ihren Körper am Leben. Was Anna zu Anna gemacht hat, gibt es nicht mehr.«
    Ich drehe mich um, presse das Gesicht gegen seine Brust. »Aber sie sollte es nicht sein«, schluchze ich.
    Wir klammern uns aneinander, und dann, als ich genug Mut gefunden habe, blicke ich wieder auf den Körper hinab, der einst meine Kleinste enthielt. Brian hat recht. Das ist nur noch eine Hülle. In ihren Gesichtszügen ist keine Energie, in ihren Muskeln eine schlaffe Leere. Unter dieser Haut haben sie ihr die Organe entnommen, die für Kate und andere namenlose Menschen gedacht sind, die eine zweite Chance bekommen.
    Â»Okay.« Ich hole tief Luft. Ich lege meine Hand auf Annas Brust, als Brian zitternd das Beatmungsgerät ausschaltet. Ich reibe in kleinen Kreisen über ihre Haut, als könnte ich es ihr dadurch leichter machen. Als die Monitore Nullinie zeigen, warte ich auf eine Veränderung an ihr. Und dann spüre ich, wie
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