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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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bei Kaffee und Kuchen auf der Piazza saßen, erzählte sie plötzlich von einem Mann, der sie heiraten wollte. Er hieß Peter Henderson und hatte in Oregon ein erfolgreiches Geschäft für Golfzubehör. Er war smart, freundlich, in der Gemeinde angesehen. Er war sechs
Jahre älter als Eloise, aber das war ja durchaus nicht alt. Es gab zwei kleine Kinder aus seiner ersten Ehe, aber man hatte sich freundschaftlich getrennt.
    »Jetzt wissen Sie, was ich hier tue«, sagte sie mit einem nervösen Lachen, das er noch nie von ihr gehört hatte. »Ich verstecke mich. Peter hat keine Ahnung, wo ich bin. Es ist bestimmt grausam von mir. Letzten Dienstag hab ich ihn angerufen und gesagt, ich bin in Italien, aber nicht, in welcher Stadt. Er war sauer auf mich, und das sicher mit Recht.«
    »So«, sagte Tibor. »Sie verbringen also den Sommer damit, über Ihre Zukunft nachzudenken.«
    »Eigentlich nicht. Ich verstecke mich einfach.«
    »Lieben Sie diesen Peter nicht?«
    Sie zuckte die Achseln. »Er ist ein netter Mann. Und ich habe sonst nicht viele Eisen im Feuer.«
    »Dieser Peter. Ist er ein Musikfreund?«
    »Oh … Dort, wo ich jetzt lebe, gälte er bestimmt als einer. Schließlich geht er oft ins Konzert. Und danach, im Restaurant, sagt er viel Nettes über das, was wir gehört haben. Also ist er wohl ein Musikfreund.«
    »Aber … schätzt er Sie auch?«
    »Er weiß, dass es nicht immer einfach sein wird, mit einer Virtuosin zusammenzuleben.« Sie seufzte. »Das war zeit meines Lebens mein Problem. Auch für Sie wird es nicht einfach sein. Aber Sie und ich, wir haben doch gar keine andere Wahl. Wir müssen unseren Weg gehen.«
    Sie erwähnte Peter nicht noch einmal, doch hatte dieser kurze Wortwechsel eine neue Dimension in ihre Beziehung gebracht. Wenn sie in dieses nachdenkliche Schweigen versank, nachdem er ein Stück gespielt hatte, oder wenn sie, mit ihm auf der Piazza sitzend, auf einmal distanziert war und an
den benachbarten Sonnenschirmen vorbeistarrte, hatte es für ihn nichts Unbehagliches mehr, und statt sich fehl am Platz zu fühlen, wusste er, dass sie seine Gegenwart schätzte.

    Eines Nachmittags, als er mit einem Stück fertig war, bat sie ihn, eine bestimmte kurze Passage – nur acht Takte – knapp vor dem Ende noch einmal zu spielen. Er tat wie geheißen und sah, dass die kleine Falte auf ihrer Stirn geblieben war.
    »Das klingt nicht nach uns«, sagte sie kopfschüttelnd. Wie immer saß sie vor dem hohen Fenster und wandte ihm ihr Profil zu. »Alles andere war gut. Alles andere waren wir . Aber diese Passage …« Ein kurzes Schaudern überlief sie.
    Er spielte die Stelle noch einmal, anders, obwohl er überhaupt nicht sicher war, wie er sie haben wollte, und war nicht überrascht, als er sie wieder den Kopf schütteln sah.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Sie müssen sich klarer ausdrücken. Ich kann mit diesem ›nicht nach uns‹ nichts anfangen.«
    »Sie meinen, ich soll es selber spielen? Meinen Sie das?«
    Sie hatte ganz ruhig gesprochen, aber als sie ihm jetzt das Gesicht zuwandte, spürte er, wie sich über sie beide eine Spannung legte. Sie sah ihn fest, beinahe herausfordernd an und wartete auf seine Antwort.
    Schließlich sagte er: »Nein, ich versuch’s noch mal.«
    »Aber Sie fragen sich, wieso ich nicht selber spiele, oder? Wieso ich mir nicht Ihr Instrument ausleihe und demonstriere, was ich meine.«
    »Nein …« Er schüttelte den Kopf, unbekümmert, wie er hoffte. »Nein. Ich glaube, es geht ganz gut so, wie wir’s immer gehalten haben. Sie formulieren Vorschläge, dann spiele ich. Auf diese Weise lässt sich vermeiden, dass ich kopiere, kopiere, kopiere. Ihre Worte eröffnen mir neue Ausblicke. Wenn
Sie selber spielen, wäre das nicht so. Ich würde Sie nur nachahmen.«
    Sie dachte darüber nach, dann sagte sie: »Sie haben vermutlich recht. Okay, ich versuche mich besser auszudrücken.«
    Dann redete sie minutenlang über den Unterschied zwischen Epilogen und Überleitungen. Und als er diese acht Takte noch einmal spielte, lächelte sie und nickte beifällig.
    Aber mit diesem kurzen Wortwechsel hatte sich ein Schatten über ihre Nachmittage gelegt. Vielleicht war er schon immer da gewesen, aber jetzt war er aus der Flasche entwichen und schwebte über ihnen. Ein andermal, als sie auf der Piazza saßen, erzählte er ihr die Geschichte, wie der frühere Besitzer seines Cellos das Instrument bekommen hatte, nämlich im Tausch gegen mehrere amerikanische Jeans, und als er mit der
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