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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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umsah und keine Spur ihres Cellos entdeckte. Es war schließlich normal, dass sie ihr Cello nicht in den Urlaub mitnahm. Andererseits konnte es durchaus sein, dass sich in dem Schlafzimmer hinter der geschlossenen Tür ein Instrument befand, vielleicht ein geliehenes.
    Sein Argwohn wuchs, als er zu weiteren Unterrichtsstunden in die Suite kam. Er unternahm alles, um ihn aus seinen Gedanken zu verdrängen, denn inzwischen hatte Tibor sämtliche noch vorhandenen Vorbehalte wegen ihrer Treffen über Bord geworfen. Allein der Umstand, dass sie ihm zuhörte, schien neue Ebenen seiner Vorstellungskraft zu erschließen, und immer wieder stellte er fest, wie er in der Zeit außerhalb dieser Nachmittagssitzungen im Geist ein Stück vorbereitete und sich vorstellte, was sie wohl dazu sagte, wie sie den Kopf schüttelte, die Stirn runzelte, zustimmend nickte und, das war das Erhebendste, wie sie hingerissen war von einer Passage, wie ihre Augen sich schlossen und ihre Hände, fast unwillkürlich, seinen Bewegungen wie Schatten folgten. Dennoch verschwand sein Argwohn nicht, und eines Tages, als er in ihre Suite kam, stand die Schlafzimmertür halb offen. Er erblickte weitere unverputzte Steinmauern und ein, wie es schien, mittelalterliches Himmelbett, aber kein Cello. Würde eine Virtuosin
derart lang auf ihr Instrument verzichten, selbst wenn sie im Urlaub war? Auch diese Frage verdrängte er wieder.

    Als der Sommer voranschritt, begannen sie ihre Gespräche zu verlängern und kamen nach dem Unterricht gemeinsam ins Café, wo sie ihn auf Kaffee, Kuchen, manchmal ein Sandwich einlud. Jetzt sprachen sie nicht nur über Musik – obwohl alles letztlich immer dorthin zurückzuführen schien. Zum Beispiel fragte sie ihn nach der jungen Deutschen, der er in Wien nahegestanden hatte.
    »Aber verstehen Sie, sie war nie meine Freundin«, sagte er. »So war das nie zwischen uns.«
    »Sie meinen, Sie waren nie körperlich miteinander intim? Das heißt doch nicht, dass Sie nicht in sie verliebt waren.«
    »Nein, Miss Eloise, das stimmt nicht. Ich hab sie gemocht, natürlich. Aber verliebt waren wir nie.«
    »Aber als Sie mir gestern den Rachmaninow vorspielten, haben Sie sich an ein Gefühl erinnert. Das war Liebe, romantische Liebe.«
    »Nein, das ist absurd. Sie war eine gute Freundin, aber geliebt haben wir uns nicht.«
    »Sie spielen diese Passage, als wäre sie die Erinnerung an Liebe. Sie sind so jung, und doch wissen Sie, was Verlassenwerden bedeutet, was Verlassenheit ist. Deswegen spielen Sie den dritten Satz so, wie Sie ihn spielen. Die meisten Cellisten spielen ihn voller Freude. Für Sie geht es darin nicht um Freude, sondern es geht um die Erinnerung an eine Zeit der Freuden, die für immer vorbei ist.«
    Solche Gespräche führten sie, und er war oft versucht, sie seinerseits auszufragen. Aber so wie er in der ganzen Zeit seines Studiums bei Petrovic nie gewagt hatte, eine persönliche
Frage zu stellen, so fühlte er sich auch jetzt außerstande, sie auf die wesentlichen Dinge in ihrem Leben anzusprechen. Stattdessen ging er auf beiläufig erwähnte Nebensächlichkeiten ein – dass sie jetzt in Portland, Oregon, lebe, dass sie drei Jahre zuvor aus Boston dorthin gezogen sei, dass sie Paris nicht möge, »weil so viel Trauriges damit verbunden ist« -, verzichtete aber darauf, nach Details zu fragen.
    Sie lachte jetzt bereitwilliger als in den ersten Tagen ihrer Freundschaft, und sie hatte sich angewöhnt, ihren Arm unter den seinen zu schieben, wenn sie aus dem Excelsior kamen und die Piazza überquerten. Das war die Zeit, in der wir anfingen, die beiden zur Kenntnis zu nehmen, dieses kuriose Paar, er so viel jünger aussehend, als er wirklich war, und sie in mancher Hinsicht mütterlich wirkend, in anderer Hinsicht aber »wie eine kokette Schauspielerin«, wie Ernesto es ausdrückte. In den Tagen, bevor wir anfingen, mit Tibor darüber zu reden, tratschten wir endlos über die beiden, wie es Männer in einer Band halt tun. Wenn sie Arm in Arm an uns vorbeischlenderten, sahen wir einander an und sagten: »Na, was meint ihr? Haben sie’s getan?« Aber nach allerlei Spekulationen zuckten wir die Achseln und mussten zugeben, dass es unwahrscheinlich war: Sie verbreiteten einfach nicht die Atmosphäre eines Liebespaars. Und als uns Tibor schließlich von diesen Nachmittagen in ihrer Suite zu erzählen begann, kam keiner von uns auf die Idee, ihn aufzuziehen oder komische Bemerkungen zu machen.
    Eines Nachmittags dann, als sie
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