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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Geschichte fertig war, sah sie ihn mit einem eigenartigen halben Lächeln an und sagte:
    »Es ist ein gutes Instrument. Es hat einen schönen Klang. Aber nachdem ich es nie auch nur berührt habe, kann ich es nicht gut beurteilen.«
    Er wusste, dass sie sich schon wieder auf das gefährliche Gelände zubewegte, und wandte rasch den Blick ab.
    »Für jemandem von Ihrem Format«, sagte er, »wäre es kein angemessenes Instrument. Auch für mich ist es jetzt kaum noch angemessen.«
    Er stellte fest, dass er aus Furcht, sie könnte das Thema an sich reißen und wieder auf dieses Terrain zerren, kaum noch entspannt mit ihr reden konnte. Sogar während ihrer angenehmsten Gespräche blieb ein Teil seines Bewusstseins auf der Hut und bereit, sie zum Schweigen zu bringen, falls sie eine neue Bresche entdeckte. Dennoch gelang es nicht jedes Mal, sie abzulenken, und wenn sie eine Bemerkung machte
wie: »Ach, es wäre so viel leichter, wenn ich es Ihnen einfach vorspielen könnte!«, tat er, als hätte er sie nicht gehört.

    Gegen Ende September – jetzt lag wirklich schon etwas Herbstliches in der Luft – erhielt Giancarlo einen Anruf von Herrn Kaufmann aus Amsterdam, der ihm mitteilte, in einem kleinen Kammerensemble in einem Fünf-Sterne-Hotel in der Innenstadt sei die Stelle des Cellisten frei. Das Ensemble spiele vier Abende in der Woche auf der Empore oberhalb des Speisesaals, und daneben hätten die Musiker auch noch »einfache, nichtmusikalische Pflichten« anderswo im Hotel. Für Kost und Logis sei gesorgt. Er, Herr Kaufmann, habe sofort an Tibor gedacht, und die Stelle sei für ihn reserviert. Wir überbrachten Tibor die Neuigkeit so schnell wie möglich, das heißt noch am selben Abend im Café, und ich glaube, wir waren alle völlig baff über Tibors gleichgültige Reaktion. Es war jedenfalls ein starker Kontrast zu seinem Verhalten am Anfang des Sommers, als wir ihm sein »Vorspiel« bei Herrn Kaufmann organisiert hatten. Giancarlo wurde sogar richtig wütend.
    »Was gibt es da groß zu überlegen?«, fuhr er den Jungen an. »Was hast du erwartet? Die Carnegie Hall?«
    »Ich bin nicht undankbar. Trotzdem muss ich über das Angebot nachdenken. Für Leute zu spielen, während sie essen und plaudern. Und diese anderen Hotelpflichten. Ist das wirklich passend für jemanden wie mich?«
    Giancarlo verlor immer ziemlich schnell die Beherrschung, und jetzt mussten wir anderen ihn dran hindern, dass er Tibor am Kragen packte und ihn anbrüllte. Einige von uns fühlten sich genötigt, die Partei des Jungen zu ergreifen: Es sei schließlich sein Leben, und er sei nicht verpflichtet, einen Job anzunehmen, bei dem ihm nicht wohl sei. Schließlich beruhigten
sich die Gemüter wieder, und Tibor räumte daraufhin ein, dass der Job, wenn man ihn als vorübergehende Maßnahme betrachtete, immerhin ein paar Vorteile bot. Und unsere Stadt, meinte er ziemlich unsensibel, wäre sowieso wieder Provinz, sobald die Touristensaison vorbei sei. Amsterdam sei wenigstens ein kulturelles Zentrum.
    »Ich werde gründlich darüber nachdenken«, sagte er schließlich. »Könntet ihr Herrn Kaufmann vielleicht ausrichten, dass ich ihm meinen Entschluss binnen drei Tagen mitteilen werde?«
    Giancarlo war damit nicht gerade zufrieden – er hatte schwanzwedelnde Dankbarkeit erwartet -, trotzdem ging er und rief Herrn Kaufmann wieder an. Während der ganzen Diskussion war Eloise McCormack mit keinem Wort erwähnt worden, aber es war uns klar, dass hinter allem, was Tibor gesagt hatte, ihr Einfluss stand.
    »Diese Frau hat einen arroganten kleinen Scheißer aus ihm gemacht«, sagte Ernesto, als Tibor fort war. »Soll er nur mit dieser Einstellung nach Amsterdam fahren. Da werden sie ihm die Hörner bald stutzen.«

    Tibor hatte Eloise von seinem Vorspiel bei Herrn Kaufmann nie etwas erzählt. Des Öfteren war er drauf und dran gewesen, etwas zu sagen, und hatte es dann doch gelassen, und je tiefer ihre Freundschaft wurde, desto mehr empfand er es als Verrat, dass er sich je auf diese Sache eingelassen hatte. Deshalb war ihm natürlich auch nicht danach, Eloise nun in die jüngsten Entwicklungen einzuweihen, geschweige denn, sie um Rat zu fragen. Aber im Verheimlichen war er noch nie gut gewesen, und sein Entschluss, die Neuigkeit für sich zu behalten, führte zu unerwarteten Ergebnissen.

    Es war ungewöhnlich warm an diesem Nachmittag. Er war wie gewohnt ins Hotel gekommen und hatte mit dem ersten Stück begonnen, das er für sie geübt hatte, aber
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