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Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Titel: Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch
Autoren: Kai Meyer
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Maskenball
    Mitternacht.
    Lisa erwachte. Unsicher starrte sie in die Dunkelheit des Zimmers. Was hatte sie geweckt? Ihr war, als hätte sie ein Geräusch gehört. Das Knarren von Bodenbrettern. Den Schrei einer Eule. Das Schlagen der antiken Standuhr draußen im Treppenhaus.
    Große Häuser stecken voller Geräusche. Unheimliche Laute, die einem bei Nacht keine Ruhe lassen. Niemand wusste das besser als Lisa und ihr Bruder Nils. Denn die beiden lebten im größten und gruseligsten Haus von ganz Giebelstein – im alten Hotel Erkerhof.
    Das Hotel gehörte Lisas und Nils’ Eltern. Es lag ein wenig abseits der Stadt. Um es zu erreichen, musste man draußen vor dem Stadttor von der Hauptstraße abbiegen und einer schattigen Pappelallee nach Westen folgen. Das Hotel lag am Waldrand, finster und Ehrfurcht gebietend. Im achtzehnten Jahrhundert war es das Schloss eines Adeligen gewesen, dann, viel später, ein Irrenhaus. Vor über hundert Jahren schließlich hatte man aus dem Gemäuer ein Hotel gemacht.
    Vier Stockwerke hoch wachte es erhaben über das grüne Hügelland. Man hatte es in Form eines Hufeisens angelegt. Seine steilen Dächer waren mit Moos und Flechten überzogen. Im Inneren erstreckte sich ein Irrgarten verwinkelter Korridore und hoher, leerer Zimmer.
    Weil das Hotel Erkerhof das unheimlichste Gebäude weit und breit war, hatten die Kinder ihm den Spitznamen Kerkerhof gegeben. Lisa und Nils fanden das sehr passend, aber ihre Eltern hörten dieses Wort überhaupt nicht gern. Sie hatten genug damit zu tun, den Hotelbetrieb am Laufen zu halten. Vor achtzig, neunzig Jahren, als Giebelstein noch ein beliebter Ausflugsort gewesen war, war der Kerkerhof eine Goldgrube gewesen. Heute aber blieben die Gäste aus. Wenn vier oder fünf der über siebzig Zimmer belegt waren, war das fast ein Grund zum Feiern.
    Auch gab es keine Angestellten im Hotel. Lisa und Nils mussten häufig mit anpacken, wenn ihren Eltern die Arbeit über den Kopf wuchs. Der Kerkerhof war ein reiner Familienbetrieb. Leider kein allzu erfolgreicher.
    Zu allem Unglück hatten Lisas und Nils’ Eltern das Hotel nun auch noch für einige Tage schließen müssen. Eine entfernte Großtante von Lisas Mutter war gestorben, und die beiden waren zur Testamentseröffnung eingeladen worden. Vielleicht, so hatten sie bei ihrer Abreise gemutmaßt, würden sie ja so an das nötige Kleingeld kommen, um ein paar der dringend nötigen Reparaturen am Hotel durchführen zu lassen.
    Lisa und Nils blieben derweil daheim. Sie hatten die Erlaubnis bekommen, ihre besten Freunde aus dem Dorf, Kyra und Chris, zum Übernachten einzuladen. Drei Tage und Nächte lang hatten die Kinder den Kerkerhof für sich allein.
    Und was für ein Abenteuerspielplatz solch ein Gemäuer sein konnte! Zumindest tagsüber, wenn es hell war.
    Nicht so im Dunkeln. Und schon gar nicht um Mitternacht. Dann nämlich gab es kaum einen Ort, der Furcht einflößender war.
    Lisa schaute auf den Wecker neben ihrem Bett. Zehn nach zwölf. Sie fürchtete, nicht wieder einschlafen zu können. Sie hasste es, nachts wach zu liegen. Alles, was einem dann durch den Kopf ging, waren Dinge, die einem Angst einjagten. Oder, schlimmer noch, die einen traurig machten. Lisa hatte weder Lust auf das eine noch auf das andere.
    Sie musste sich ablenken. Irgendwie.
    Schlecht gelaunt setzte sie sich in ihrem Bett auf. Ihr Bruder Nils schlief im Raum nebenan. Kyra und Chris hatten zwei der Gästezimmer am anderen Ende des Flurs bezogen. Eigentlich hatten sie sich alle einen Spätfilm im Fernsehen anschauen wollen – Die Nacht der lebenden Toten, was wirklich verdammt interessant klang –, aber dann waren sie doch viel zu müde gewesen.
    Jetzt überlegte Lisa, ob sie ins Fernsehzimmer gehen und sich den Schluss des Films anschauen sollte. Allerdings, einen Horrorfilm anzusehen, ganz allein, um diese Uhrzeit und vor allem in diesem Haus – nein, das schien ihr nicht gerade das richtige Mittel zu sein, um wieder einzuschlafen.
    Dann also ein Buch! Sie stand auf und ging mit nackten Füßen hinüber zum Bücherregal. Ihr rot-weiß gestreiftes Nachthemd reichte nur bis zu den Knien. Es war kühl im Zimmer, und sie bekam eine Gänsehaut an den Beinen.
    Sie hatte gerade die Hand nach einem Buch ausgestreckt, als sie etwas hörte.
    Ein Flüstern, draußen auf dem Flur!
    Schlichen die anderen etwa vor ihrer Tür herum? War sie davon aufgewacht?
    Lisa lächelte. Vielleicht gelang es ihr ja, ihren Freunden einen Mordsschrecken
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