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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gleich:
    »Spielen Sie für mich. Spielen Sie ein Stück aus Ihrem Konzert.«
    Sie deutete auf einen lackierten Stuhl mit aufrechter Lehne, der sorgfältig in die Mitte des Zimmers gestellt worden war. Also setzte er sich darauf und packte sein Cello aus. Sie nahm, was er eher beunruhigend fand, vor einem der großen Fenster Platz, sodass er sie fast exakt im Profil sah, und starrte die ganze
Zeit, während er stimmte, vor sich hin. Ihre Haltung änderte sich auch nicht, als er zu spielen begann, und als er mit seinem ersten Stück zu Ende war, sagte sie kein Wort. Also begann er rasch mit einem zweiten Stück, dann einem dritten. Es verging eine halbe Stunde, dann eine ganze. Und irgendetwas – es mochte mit dem schattigen Raum und seiner strengen Akustik zu tun haben, dem von den wehenden Gardinen gefilterten Nachmittagslicht, dem von der Piazza aufsteigenden Hintergrundlärm, und vor allem mit ihrer Gegenwart – ließ ihn Töne erzeugen, die ganz neue Tiefen, ganz neue Anklänge enthielten. Als die Stunde zu Ende ging, war er überzeugt, dass er ihre Erwartungen mehr als erfüllt hatte, doch als er mit seinem letzten Stück fertig war und sie beide noch eine ganze Weile schweigend dagesessen hatten, drehte sie sich endlich zu ihm um und sagte:
    »Ja, ich verstehe ganz genau, wo Sie sind. Es wird nicht leicht sein, aber Sie können es schaffen. Ganz bestimmt können Sie es schaffen. Fangen wir mit dem Britten an. Spielen Sie ihn noch mal, nur den ersten Satz, und dann unterhalten wir uns. Wir können gemeinsam daran arbeiten, Stück für Stück.«
    Als er das hörte, war sein erster Impuls, einfach sein Cello einzupacken und zu gehen. Aber dann siegte irgendeine andere Regung – vielleicht war es schlichte Neugier, vielleicht etwas Tiefgründigeres – über seinen Stolz und zwang ihn, das verlangte Stück noch einmal zu beginnen. Als sie ihn nach mehreren Takten unterbrach und zu reden anfing, hatte er abermals das dringende Bedürfnis zu gehen, und aus reiner Höflichkeit sagte er sich, er werde diese unerbetene Unterrichtsstunde noch maximal fünf Minuten ertragen. Er hielt es dann doch ein bisschen länger aus, dann noch länger. Er spielte wieder ein paar Takte, sie redete wieder. Was sie sagte, kam
ihm anfangs immer hochtrabend und viel zu abstrakt vor, aber wenn er dann versuchte, ihre Anregungen umzusetzen, war er überrascht von der Wirkung. Im Flug war eine weitere Stunde vergangen.
    »Auf einmal begann ich was zu erkennen«, erklärte er uns. »Einen Garten, den ich noch nicht betreten hatte. Da lag er in der Ferne vor mir. Es stand einiges im Weg. Aber zum ersten Mal sah ich ihn. Ein Garten, von dem ich nichts geahnt hatte.«
    Die Sonne war fast untergegangen, als er das Hotel endlich verließ und quer über den Platz zum Café kam, wo er sich, von einem kaum zu bändigenden Hochgefühl ergriffen, den Luxus einer Mandeltorte mit Schlagrahm gönnte.

    Von da an kam er jeden Nachmittag zu ihr ins Hotel, und immer ging er, wenn auch nicht mit dem Gefühl einer Offenbarung wie bei seinem ersten Besuch, so doch erfüllt von neuer Kraft und Hoffnung. Ihre Kommentare wurden kühner und wären einem Beobachter, hätte es einen gegeben, vielleicht anmaßend erschienen, doch Tibor konnte ihre Einmischung nicht mehr als Übergriff empfinden. Jetzt fürchtete er, dass ihr Aufenthalt in der Stadt bald vorbei sein könnte, und dieser Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, riss ihn nachts aus dem Schlaf und warf einen Schatten, wenn er nach einem weiteren beglückenden Unterrichtsnachmittag auf den Platz hinaustrat. Wenn er das Thema versuchsweise ansprach, war ihre Antwort immer ausweichend und alles andere als beruhigend. »Ach, ich bleibe, bis es mir zu kalt wird«, sagte sie einmal, und ein andermal: »Vermutlich bleibe ich so lange, wie es mir hier nicht langweilig wird.«
    »Aber wie ist sie denn selber?«, fragten wir hartnäckig. »Am Cello. Wie spielt sie?«

    Als wir die Frage zum ersten Mal stellten, gab Tibor keine richtige Antwort, sagte nur etwas wie: »Sie sagte, sie sei immer eine Virtuosin gewesen, von Anfang an«, und wechselte das Thema. Als ihm aber klar wurde, dass wir nicht lockerlassen würden, seufzte er und begann es uns zu erklären.
    Tatsache war, dass Tibor sie schon bei diesem ersten Mal liebend gern gehört hätte, aber zu schüchtern gewesen war, um sie zu bitten, dass sie selbst etwas spielte. Er empfand lediglich einen winzigen Stich des Argwohns, als er sich in ihrem Zimmer
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