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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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nach höchstens drei Minuten unterbrach sie ihn und sagte:
    »Irgendwas stimmt nicht. Ich dachte es mir schon, als Sie hereinkamen. Ich kenne Sie inzwischen so gut, Tibor, dass mir schon an der Art, wie Sie vorhin an die Tür geklopft haben, etwas aufgefallen ist. Und jetzt, wo ich Sie spielen höre, bin ich mir sicher. Es ist sinnlos, Sie können es mir nicht verheimlichen.«
    Er war einigermaßen bestürzt. Er ließ den Bogen sinken und war im Begriff, sich alles von der Seele zu reden, als sie die Hand hob und sagte:
    »Das ist etwas, vor dem wir nicht ständig davonlaufen können. Sie versuchen immer auszuweichen, aber es hat keinen Sinn. Ich will jetzt darüber reden. Die ganze letzte Woche wollte ich schon darüber reden.«
    »Wirklich?« Er sah sie verwundert an.
    »Ja«, sagte sie und rückte ihren Stuhl zum ersten Mal so, dass sie ihn direkt ansah. »Ich hatte nie die Absicht, Sie zu täuschen, Tibor. Diese letzten Wochen waren für mich nicht die leichtesten, und Sie waren ein so lieber Freund. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie dächten, ich hätte mir einen schlechten Scherz mit Ihnen erlaubt. Nein, bitte, lassen Sie mich diesmal ausreden. Ich möchte es sagen. Wenn Sie mir jetzt Ihr Cello gäben und mich zu spielen bäten, müsste ich sagen, nein, das kann ich nicht. Nicht weil das Instrument nicht gut genug wäre, das gewiss nicht. Aber wenn Sie jetzt denken, ich sei eine Hochstaplerin, ich hätte Ihnen vorgespiegelt, etwas zu sein, das ich nicht bin, dann möchte ich Ihnen sagen, dass Sie sich irren. Sehen Sie sich an, was wir alles miteinander erreicht
haben. Ist das nicht Beweis genug, dass ich nichts vorgetäuscht habe? Ja, ich sagte, ich sei eine Virtuosin. Lassen Sie mich erklären, was ich damit meinte. Ich meinte, dass ich, genau wie Sie, mit einer ganz besonderen Begabung geboren wurde. Sie und ich, wir besitzen etwas, das die meisten anderen Cellisten nie haben werden, auch wenn sie noch so viel üben. Das konnte ich bei Ihnen auf Anhieb erkennen, in dem Moment, als ich Sie in dieser Kirche hörte. Und Sie müssen es irgendwie ja auch an mir erkannt haben. Sonst hätten Sie nicht beschlossen, dieses erste Mal zu mir ins Hotel zu kommen.
    Es gibt nicht viele von uns, Tibor, und wir erkennen einander. Dass ich noch nicht gelernt habe, Cello zu spielen, ändert nichts daran. Ich bin eine Virtuosin, verstehen Sie? Aber ich bin eine Virtuosin, die noch ausgepackt werden muss. Auch Sie sind noch nicht vollständig ausgepackt, und das war es, worum ich mich in den letzten Wochen bemüht habe. Ich wollte Ihnen helfen, sich dieser Schichten zu entledigen. Aber ich habe nie versucht, Sie zu täuschen. Bei neunundneunzig Prozent aller Cellisten ist unter den Schichten nichts, es gibt nichts freizulegen. Deshalb müssen Leute wie wir einander helfen. Wenn wir uns irgendwo begegnen, auch auf einem Platz voller Menschen, müssen wir einander die Hand reichen – wir sind ja so wenige.«
    Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte, ihre Stimme aber war fest geblieben. Jetzt verstummte sie und wandte sich wieder von ihm ab.
    »Sie glauben also«, sagte er, »dass Sie eine besondere Cellistin sind. Eine Virtuosin. Wir anderen, Miss Eloise, wir müssen unseren ganzen Mut zusammennehmen und uns auspacken, wie Sie sagen, ohne je sicher sein zu können, was wir unter den Schichten finden werden. Sie aber machen sich gar
nicht erst die Mühe, sich auszupacken. Sie tun nichts. Sie sind ja so sicher, dass Sie eine Virtuosin …«
    »Bitte seien Sie nicht wütend. Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt. Aber so ist es, es ist die Wahrheit. Meine Mutter hat meine Begabung sehr früh erkannt, als ich noch sehr klein war. Dafür wenigstens bin ich ihr dankbar. Aber die Lehrer, die sie mir gesucht hat, als ich vier war, als ich sieben war, als ich elf war, die waren leider alle nicht gut. Mom hatte davon keine Ahnung, aber ich wusste es. Schon als kleines Mädchen hatte ich diesen Instinkt. Ich wusste, dass ich meine Begabung vor Leuten schützen musste, die sie vollständig zerstören konnten, womöglich in der besten Absicht. Deshalb habe ich mich diesen Leuten verschlossen. Sie müssen dasselbe tun, Tibor. Ihre Begabung ist kostbar.«
    »Verzeihen Sie«, fiel ihr Tibor, jetzt liebenswürdiger, ins Wort, »Sie sagen, Sie haben als Kind Cello gespielt? Aber heute …«
    »Ich habe das Instrument nicht mehr angerührt, seit ich elf war. Nicht mehr seit dem Tag, als ich meiner Mutter erklärte, ich könne mit Mr
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