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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Roth nicht weitermachen. Und sie hat verstanden. Sie fand auch, dass es viel besser sei, erst einmal abzuwarten und nichts zu tun. Das Entscheidende war, meine Begabung nicht zu beschädigen. Mag sein, dass meine Zeit noch kommt. Gut, manchmal denke ich zwar, ich habe zu lange gewartet. Ich bin jetzt einundvierzig. Aber wenigstens habe ich das, womit ich geboren wurde, nicht beschädigt. Ich habe im Lauf der Jahre so viele Lehrer getroffen, die sagten, sie könnten mir helfen, aber ich habe sie durchschaut. Manchmal lässt es sich schwer sagen, Tibor, sogar für unsereinen. Diese Lehrer, sie sind so … professionell , sie reden so schön, man hört ihnen zu, und im ersten Moment lässt man sich täuschen. Man sagt sich, ja, endlich jemand, der mir hilft,
er ist einer von uns . Dann erkennt man, dass er nichts dergleichen ist. Und das ist der Moment, in dem man hart sein und sich abschotten muss. Denken Sie daran, Tibor, es ist immer besser, zu warten. Manchmal bin ich deprimiert, weil ich meine Begabung noch immer nicht entschleiert habe. Aber ich habe sie auch nicht beschädigt, und das ist es, was zählt.«
    Schließlich spielte er ihr einige seiner neu eingeübten Stücke vor, aber sie fanden nicht in ihre gewohnte Stimmung zurück und beendeten das Treffen früher als sonst. Unten auf der Piazza tranken sie Kaffee und redeten wenig, bis er ihr von seinem Plan erzählte, für ein paar Tage aus der Stadt zu verschwinden: Er habe schon immer die Umgebung erkunden wollen und deshalb jetzt einen kleinen Urlaub gebucht.
    »Das wird Ihnen guttun«, sagte sie leise. »Aber bleiben Sie nicht zu lang weg. Wir haben noch viel zu tun.«
    Er werde in spätestens einer Woche zurück sein, versicherte er ihr. Doch als sie sich voneinander verabschiedeten, blieb noch immer ein Unbehagen.
    Natürlich hatte er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt, was seine Reise betraf: Er hatte noch gar nichts gebucht. Aber nachdem er sich an diesem Nachmittag von Eloise getrennt hatte, ging er nach Hause und erledigte mehrere Anrufe, und am Ende reservierte er ein Bett in einer Jugendherberge in den Bergen nahe der Grenze zu Umbrien. Abends kam er zu uns ins Café, und nachdem er uns von seinen Ausflugsplänen berichtet hatte – wir gaben ihm alle möglichen widersprüchlichen Ratschläge, was er unbedingt sehen und wo er hinfahren müsse -, bat er Giancarlo ziemlich zerknirscht, Herrn Kaufmann mitzuteilen, dass er das Stellenangebot gerne annehme.
    »Was soll ich sonst tun?«, fragte er uns. »Wenn ich zurückkomme, bin ich blank.«

    Tibor erlebte eine recht angenehme Unterbrechung draußen auf dem Land. Er erzählte uns nicht viel, nur dass er sich mit ein paar deutschen Wanderern angefreundet und in den Trattorien in den Hügeln mehr ausgegeben hatte, als er sich leisten konnte. Nach einer Woche war er wieder da, sichtlich erholt, aber er hatte es sehr eilig, sich zu vergewissern, dass Eloise McCormack nicht während seiner Abwesenheit abgereist war.
    Die Touristenströme waren merklich dünner geworden, und die Kellner des Cafés brachten die Heizstrahler heraus und stellten sie zwischen den Tischen im Freien auf. Am Nachmittag seiner Rückkehr trug Tibor zur gewohnten Stunde wieder sein Cello ins Excelsior und stellte erfreut fest, dass Eloise nicht nur da war und auf ihn wartete, sondern ihn offensichtlich auch vermisst hatte. Sie begrüßte ihn bewegt, und so, wie jemand anderes im Gefühlsüberschwang dem Ersehnten womöglich zu essen und zu trinken vorgesetzt hätte, drängte sie ihn zu seinem angestammten Stuhl und begann ungeduldig sein Cello auszupacken, und sie sagte: »Kommen Sie, spielen Sie für mich! Spielen Sie einfach!«
    Sie hatten einen wunderbaren Nachmittag. Zuvor hatte er sich Sorgen gemacht, wie die Stimmung nach ihrer »Beichte« und ihrem getrübten Abschied vor seiner Abreise wohl sein würde, aber offensichtlich war alle Spannung verflogen und die Atmosphäre zwischen ihnen besser denn je. Sogar als sie nach dem Ende eines Stücks die Augen schloss und zu einer langen, strengen Kritik seiner Darbietung ansetzte, empfand er keinerlei Unmut, sondern nur eine Gier, ihre Worte so vollständig wie möglich zu begreifen. So war es auch am nächsten und am übernächsten Tag: Sie waren entspannt, scherzten manchmal sogar, und er war sicher, dass er nie in seinem Leben besser gespielt hatte. Mit keinem Wort kamen sie auf das Gespräch
vor seiner Abreise zurück, und sie fragte ihn nicht nach seinem Urlaub auf dem Land.
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