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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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über die Initiative von Reverend Brace geurteilt werden. Zumal es damals kein soziales Netz aus Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie Krankenversorgung auch für Mittellose gab, wie wir es in den westlichen Industrienationen schon seit vielen Jahrzehnten als Rechtsanspruch kennen - und wie weitmaschig es zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch geworden sein mag.
    Reverend Brace, 1926 in Litchfield, Connecticut geboren, kam 1848 im Alter von zweiundzwanzig Jahren nach New York, um Theologie zu studieren - und war entsetzt von den Zuständen, unter denen so viele Straßenkinder ihr Leben fristeten. Nach seiner Ausbildung arbeitete er als Lehrer und schrieb zahlreiche sozialkritische Artikel für die New York Daily Times, den Independent und andere Publikationen. Schon in diesen Jahren zeichnete er sich als vehementer Kritiker des amerikanischen Materialismus aus, der allein Geld und Erfolg als Lebensziel gelten ließ. In seiner freien Zeit besuchte er regelmäßig Armenhäuser und Gefängnisse, wie sie auf der berüchtigten Blackwell’s Island existierten, Heime für Waisen sowie Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche, um sich ein Bild von den dortigen Zuständen und den unvorstellbar rigiden »Erziehungsmaßnahmen« zu machen, die ihn zutiefst erschütterten, abstießen und nach besseren, menschenwürdigeren Methoden sinnen ließen. 1850 brach Brace mit Freunden zu einer langen Reise nach Europa auf, wo er ähnliche Einrichtungen aufsuchte und sich vor allem in Deutschland intensiv mit der Institution »Das Raue Haus« beschäftigte, das von Johann Hinrich gegründet worden war, einem Führer der Inneren Mission, einer christlich-sozialistischen Bewegung, die von 1848 an, dem Jahr der Veröffentlichung von Karl Marx’ Werk Das kommunistische Manifest, stark unter dem Einfluss der kommunistischen Lehre stand. Anders als in den düsteren amerikanischen Waisenhäusern und so genannten Houses of Refuge, wo ein strenges, fast schon militärisches Regiment herrschte, bemühte man sich im Rauen Haus um eine kindergerechte und erheblich menschenfreundlichere Behandlung der Waisen. Auch erhielten sie dort eine gewisse Art von Berufsausbildung, wurden sie doch in handwerklichen Tätigkeiten angelernt und mit den verschiedenen Arbeiten der Landwirtschaft vertraut gemacht.
    Nach seiner Rückkehr in die Staaten im November 1851 verfasste er über seine Erfahrungen in Deutschland das Buch Home-Life in Germany, das er im März 1853 vollendete. Im selben Jahr traf er sich mit einer Gruppe von sozial engagierten Bankiers, Rechtsanwälten und Geistlichen, die das Elend der Straßenkinder nicht tatenlos hinnehmen wollten und zu großzügigen Spenden bereit waren, gründete mit ihnen die Children’s Aid Society und übernahm deren Leitung. Die erste Gruppe Waisenkinder, 37 Jungen und Mädchen zwischen sechs und fünfzehn Jahren alt, schickte die CAS im September 1854 auf die Reise nach Westen. Der letzte Waisenzug ging 75 Jahre später, 1929, nach Texas. Insgesamt platzierte die Kinderhilfsorganisation in dieser Zeitspanne ihren eigenen Angaben nach über 250 000 Kinder fern von New York.
    Die Bezeichnung orphan trains enthält jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn nur bei der Hälfte der Kinder handelte es sich tatsächlich um Vollwaisen. Ein Viertel der Verschickten besaß nämlich noch ein Elternteil, das andere Viertel sogar Vater und Mutter, wie die Unterlagen der CAS beweisen. Diesen Eltern wurden in nicht wenigen Fällen die Kinder einfach genommen, weil man sie wegen Alkoholismus und/oder Prostitution für nicht fähig befand, ihre Kinder zu behalten und sie selber aufzuziehen, oder weil die Eltern nicht für sie sorgen konnten oder wollten und sie verwahrlosen ließen. Aber man fragte auch nicht lange nach, wenn Kinder einfach von zu Hause weggelaufen waren, um der Gewalttätigkeit des Vaters zu entfliehen oder aus anderen Gründen das Leben auf der Straße gewählt hatten. Die Vorwürfe insbesondere vieler katholischer Einwanderer, man würde ihnen ihre Kinder stehlen, waren somit nicht ganz unberechtigt.
    Der Bürgerkrieg, der die Nation auseinander riss und mit dem Kanonenbeschuss von Fort Sumter am 21. Juli 1861 bis zur Kapitulation der Konföderierten durch General Lee am 9. April 1865 in Appomattox Court House, Virginia, vier Jahre lang tobte, trug in einem großen Maße dazu bei, dass die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften und somit nach Waisen im Mittleren Westen rasant anstieg. Im Krieg waren auf Seiten der
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