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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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erklären, weshalb er in dieser ruhigen,
lauen Sommernacht die Kontrolle über das Auto verloren hatte. Er war ein guter
Fahrer gewesen, der sich niemals betrunken hinters Steuer setzte. Erst als eine
Woche später ein Nachbar nachts dieselbe Strecke fuhr, fand sich eine Erklärung
für den Unfall.
    »Ich habe mich fast zu Tode erschreckt!«, raunte er später in der
Dorfkneipe. »Ihr müsst euch das vorstellen: Plötzlich seh ich die Flak am
Himmel! Fliegeralarm, wie damals 1944!«
    Doch in der Kneipe lachten sie ihn aus. »So ein Unsinn,
Fliegeralarm! Die neue Disko an der A  31 schickt
diese Lichter in den Himmel. Im Rhythmus der Musik, verstehst du? Das ist ein
Partyspaß.«
    Theodor Horstkemper hatte wie viele in der Gegend die Bombennächte
von Münster und die letzten Kriegswochen niemals vergessen können, auch wenn er
kaum älter als fünf Jahre gewesen war. Er hatte die Schrecken dieser Zeit verdrängt,
sie fest verschlossen in einer dunklen Kammer seiner Seele. Doch in dieser
Nacht hatten sie sich daraus befreit und ihn die Kontrolle über seinen Wagen
verlieren lassen.
    Er hinterließ Frau und Kinder. Dazu einen kleinen, schlecht gehenden
Hof in Erlenbrook-Kapelle und einen Berg Schulden bei der ortsansässigen
Sparkasse. Er hinterließ einen ratlosen Kartenclub, der mit ihm seinen besten
Spieler verlor, und eine altersmüde Ziege, die ihren Ruhestand auf der Wiese
hinter dem Hof genoss. Vor allem aber hinterließ er mich, dachte Annika und
drückte das Foto fest an ihre Brust. Sein Stoppelkätzchen, wie er sie genannt
hatte. Seine jüngste Tochter.
    An die Zeit nach seinem Tod konnte sie sich kaum erinnern. Es waren
Monate wie im Nebel. Ihre Mutter war damals mit dem Hof völlig überfordert
gewesen. Sie hatte nicht gewusst, wie sie das alles überstehen sollte,
zumindest war das der Eindruck ihrer drei Töchter gewesen. Kurz nach der
Beerdigung war Tante Ada zu ihnen gezogen, die unverheiratete Schwester ihres
Vaters. »Damit hier wieder ein Mann im Haus ist«, so hatte sie ihr Auftauchen
erklärt, und tatsächlich wären sie wohl alle untergegangen, hätte Ada den
Betrieb nicht in Schwung gebracht.
    Die unrentable Schweine- und Hühnerzucht wurde kurzerhand
abgeschafft, stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf Milchkühe. Sie ließ
die Ställe für eine moderne, effiziente Milchproduktion ausbauen, pachtete Land
dazu, ersteigerte Milchquoten, um die zulässige Milchproduktion zu erhöhen, und
später, als es die finanzielle Situation zuließ, kaufte sie fünfzehn Hektar
Land von einem Kleinbauern, der die Landwirtschaft aufgegeben und sich auf sein
Altenteil zurückgezogen hatte.
    Schon nach kurzer Zeit konnte sich keiner in der Familie mehr
vorstellen, wie sie je ohne Ada zurechtgekommen waren. Sie war einfach
unersetzlich auf dem »Frauenhof«, wie die Horstkempers in der Nachbarschaft
leicht spöttisch genannt wurden. Doch den Vater ersetzte sie Annika nicht. Er
hatte ein großes Loch in ihrem Herzen hinterlassen, das keiner füllen konnte.
    Sie legte das Foto mit seinem Porträt zurück und zog ein anderes
hervor. Es zeigte sie bei der Einschulung, kurz vor dem Unfall. Da hatte sie
nicht gewollt, dass er sie zur Schule begleitet. Ich bin doch jetzt groß, hatte
sie gesagt, da brauch ich keinen Vater mehr, der überallhin mitkommt. Zwei
Wochen später war er tot gewesen, und danach hatte sie sich jeden Morgen auf
dem Schulweg unendlich schuldig gefühlt.
    »Kurze? Bist du hier oben?«
    Die Stimme kam aus dem Flur vorm Schlafzimmer. Marita stand
plötzlich in der Tür. Eilig schob Annika das Album unters Kopfkissen.
    »Was gibt’s denn?«, fragte sie.
    Doch es war schon zu spät, ihre Schwester hatte das Album längst
gesehen. Annika war die Einzige in der Familie, die nach all den Jahren noch
ständig in den alten Fotos wühlte. Ein seltsamer Ausdruck trat in Maritas
Gesicht. Annika glaubte, dass es Mitleid war. Es schien, als wollte Marita
etwas Tröstendes sagen. Doch natürlich war sie damit völlig überfordert.
    »Kannst du runterkommen?«, fragte sie stattdessen. »Jemand muss mit
Paul zum Arzt fahren. Er hat sich beim Spielen den Kopf aufgeschlagen. Ist
alles halb so schlimm, doch wie es aussieht, muss die Wunde mit ein oder zwei
Stichen genäht werden.«
    »Na klar. Kein Problem.« Sie sprang vom Bett, wobei sie darauf achtete,
dass das Album unter dem Kopfkissen blieb, und folgte ihrer Schwester nach
unten.
    »Ich würde ihn ja selbst fahren«, sagte Marita. »Aber Clemens
häckselt
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