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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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überhören.
    »Wenn ich schon sehe, wie du das Gewehr hältst! Das wird nie was!«
Marita entdeckte Annika und winkte ihr zu. »Hey, Kurze! Wird auch Zeit, dass du
hier auftauchst. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
    »Kurze« war zu Annikas Bedauern ihr Spitzname in der Familie. Dass
sie inzwischen einundzwanzig war, änderte nichts daran. Sie war eine
Nachzüglerin gewesen, so etwas wie ein Betriebsunfall der Eltern. Marita und
Mechthild waren bereits zehn und zwölf Jahre alt gewesen, als sie zur Welt kam.
Durch den Altersunterschied war es ihr immer vorgekommen, als wäre sie mit zwei
Tanten aufgewachsen und nicht mit zwei Schwestern.
    Im Lauf der Jahre hatte sie einiges einstecken müssen, und immer,
wenn ihre Schwestern es wieder einmal zu weit getrieben hatten mit ihren Späßen,
war deren Kommentar gewesen: Ach komm schon, Kurze, sieh es mal so – wer uns
überlebt, der überlebt einfach alles.
    Sie zu foppen, war schon immer ihre Art gewesen, Annika gegenüber
ihre Zuneigung auszudrücken. Wenn Marita und Mechthild nämlich wirklich sauer
auf sie waren, dann gab es plötzlich keine herablassenden Bemerkungen mehr,
dann zeigten sie sich enttäuscht und verletzt und redeten nicht mehr mit ihr.
    »Mario hätte den Vogel natürlich längst abgeschossen«, rief Marita.
»Aber er ist fair und wollte damit warten, bis du dein Foto für die Zeitung
gemacht hast.«
    Die Männer in der Schlange lachten laut. Mario Westlake rang sich
ein gequältes Lächeln ab.
    »Wenn du es so gut weißt, dann schieß doch selber«, murrte er.
»Vielleicht kann ich von dir noch was lernen.«
    Marita tippte sich an die Stirn, doch unter den Schützen kam
Stimmung auf.
    »Genau, Marita. Zeig’s ihm.«
    »Das möchte ich sehen!«
    »Ach, die! Großes Maul und nix dahinter!«
    Marita machte sich an den Rückzug.
    »Nein, nein, das macht mal schön allein. Ich sag schon nichts mehr.
Versprochen.«
    Doch da war es bereits zu spät.
    »Komm schon, Marita! Jetzt wollen wir’s sehen.«
    »Natürlich schießt du! Du bist schließlich Mitglied im
Schützenverein. Warum sollst du nicht schießen?«
    »Ich wette, du kannst nicht mal ein Gewehr halten, so wie du
aussiehst.«
    Marita wirkte plötzlich klein.
    »Jetzt mach schon deine verdammten Fotos«, raunte sie Annika zu.
»Dann fällt es keinem auf, wenn ich mich währenddessen aus dem Staub mache.«
    Einen Augenblick lang zog Annika in Erwägung, ihrer Schwester diesen
Gefallen nicht zu tun. Nur so zum Spaß, um sie zu ärgern. Doch dann besann sie
sich, schließlich musste der Zeitungsbericht in ein paar Stunden fertig sein.
Annika schwang sich über den Zaun, zückte ihre Kamera und stellte sich, die
brennende Sonne im Rücken, vor die Schützen.
    »Bitte alle einmal aufstellen«, rief sie. »Und du, Mario, kannst du
mal so tun, als ob du schießen würdest?«
    »Er macht den ganzen Tag nichts anderes«, flüsterte jemand, doch
offenbar hatte Mario es nicht gehört. Er hob das Gewehr und lächelte ins
Objektiv.
    Annika machte ein halbes Dutzend Fotos, dann steckte sie die Kamera
ein und ließ die Schützen allein.
    Sie merkte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Das wäre also
geschafft. Jetzt musste sie nur noch warten, bis der Vogel abgeschossen wurde.
Gemächlich schlenderte sie über den Festplatz und blickte sich um. Für die
Zeitung brauchte sie nur zwei Fotos, eins von den Schützen und eins vom neuen Königspaar.
Trotzdem zog sie ihre Kamera noch einmal hervor, suchte nach Motiven und
fotografierte ein bisschen herum. Sie knipste die Männer rund um den Bierwagen,
ein paar Kinder, die mit einer am Würstchenstand ergatterten Fanta zurück zur
Hüpfburg liefen, und ein Grüppchen von Landfrauen, die sich in den Schatten
einer Linde gesetzt hatten und kichernd eine Flasche Likör öffneten.
    Als sie das große Festzelt erreichte, traf sie Clemens Röttger,
einen Großbauern aus der Nachbarschaft. Er gehörte zu den wenigen, denen die
Schützenuniform wirklich gut stand. Die machte ihn jünger, fand sie, und betonte
seine gute Figur.
    »Hallo, Anni! Schön, dich zu sehen.«
    Er zwinkerte ihr zu, und sie lächelte glücklich zurück.
    Keiner sonst nannte sie so, nur Clemens Röttger. Er hatte ihr diesen
Namen gegeben, als sie noch ein Kind gewesen und dem damaligen Jungbauern wie
ein Hund hinterhergetrottet war. Sie hatte ihn zum Pflügen aufs Feld begleitet,
zum Einkaufen in den Landhandel, und wenn bei Röttger Mittagsschlaf gehalten
wurde, hatte sie geduldig in der Küche
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