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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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gesessen und auf ihn gewartet. Eine
richtige Nervensäge war sie gewesen, doch er hatte sie nie weggeschickt. Heute
wusste sie, dass er damals Mitleid für sie empfunden hatte. Nachdem ihr Vater
unerwartet gestorben war, hatte sie sich an ihn rangehängt. Ein sechs Jahre
altes Mädchen, das nicht verstehen konnte, wieso es plötzlich alleine war. Sie
war doch der kleine Liebling ihres Vaters gewesen, sein Nesthäkchen.
    »Musst du einen Artikel für die Zeitung schreiben?«, fragte Clemens
Röttger und deutete auf die Kamera.
    Sie verzog das Gesicht. »Ja, leider. Schützenfeste und Kaninchenzuchtvereine.
Zu etwas Höherem sieht man mich nicht berufen.« Sie fügte hinzu: »Das Zeug
liest doch eh kein Mensch.«
    »Sag das nicht. Gerade die Artikel vom Schützenfest werden von allen
gelesen. Die Leute finden es toll, ihren Namen in der Zeitung gedruckt zu
sehen.«
    Annika lächelte, obwohl sie fand, dass dies ein sehr zweifelhaftes
Kompliment für ihre Arbeit war.
    »Komm, lass uns ins Zelt gehen«, sagte er. »Ich lad dich zu Kaffee
und Kuchen ein.«
    Sie hakte sich bei ihm unter und ging mit. Im Innern des Festzelts
staute sich die Hitze. Hier war die Luft schwer und drückend, es roch nach dem
Harz der Birkenzweige, mit denen das Zelt geschmückt war. Lange Tische mit
weißen Papierdecken und Blumenschmuck waren auf das Podest ausgerichtet, auf
dem der Thron des Königspaars und die Tische der Ehrengäste standen.
    Um diese Zeit war noch nicht viel los im Zelt. Ein paar Frauen
spielten Karten, an der Kuchentheke drapierten zwei ehrenamtliche Helferinnen
die Torten, und am Biertresen saß einsam ein alter Bauer, der in sein Glas
starrte.
    Annika setzte sich, während Clemens Röttger zur Kuchentheke ging,
ohne sie gefragt zu haben, was sie gerne hätte. Sie legte die Kamera auf den
Tisch und wartete.
    Etwas abseits entdeckte sie eine Nachbarin, Hedwig Tönnes. Eine
seltsame alte Frau, der sie schon als Kind aus dem Weg gegangen war. Früher
hatte sie Angst vor ihrem fetten Krötengesicht gehabt, heute wusste sie, dass
es durch den Alkohol so aufgequollen war. Doch auch ihre ewig miese Laune und
ihr Frust über die vierzig schlechten Ehejahre mit ihrem Mann Ewald hatten sich
tief in ihre Gesichtszüge gegraben. Solange Annika denken konnte, hatten sich
die beiden entweder angeschnauzt, oder sie hatten stumm und gereizt in
entgegengesetzte Richtungen geblickt.
    Auch jetzt hockte Hedwig Tönnes übellaunig da und stopfte ein Stück
Sahnetorte in sich hinein. Neben ihr saßen zwei alte Frauen aus dem Dorf,
wahrscheinlich zerrissen sie sich wieder mal das Maul über jemanden.
    Annika nahm die Kamera und zoomte das Krötengesicht heran. Wie sehr
ein Leben seine Spuren hinterlässt, dachte sie und drückte den Auslöser.
Irgendwie tat die Nachbarin ihr leid. Kein Mensch hatte es verdient, so auszusehen.
    »Hedwig, wo bleibt denn dein Mann?«, rief Clemens Röttger, der
Kaffee und Kuchen an ihrem Tisch vorbeibalancierte. »Das gab es ja noch nie,
dass Ewald zu spät zum Schützenfest gekommen ist.«
    Sein Lächeln und seine unbekümmerte Art entwaffneten die Frauen. Nur
Hedwig Tönnes zeigte sich unbeeindruckt.
    »Ich weiß auch nicht, was er sich dabei denkt«, knurrte sie.
    »Aber er ist doch nicht krank?«, erkundigte sich Clemens Röttger.
    »Nein, nein«, erwiderte eine der Frauen aus dem Dorf. »Er war ja
heute Morgen zum Festgottesdienst hier. Er wollte nur kurz nach Hause zu den
Schweinen.«
    »Hubert Höing ist rübergegangen, um ihn zu holen«, sagte die andere.
»Sie werden sicher gleich wieder hier sein.«
    »Oder er hat sich seinen stinkenden Schweinen zum Fraß vorgeworfen«,
kam es von Hedwig Tönnes. »Zuzutrauen wäre es ihm, diesem vertrottelten
Nichtsnutz.«
    Die beiden Frauen schwiegen betroffen, doch Clemens Röttger lachte
laut.
    »Ich glaube kaum, dass eure Schweine Interesse an ihm hätten. Sein
Fleisch ist viel zu zäh.«
    Einen Augenblick lang schien Hedwig Tönnes offenbar nicht zu wissen,
was sie von diesem Scherz halten sollte, doch dann verzog sich ihr Mund zu
einem widerstrebenden Lächeln, und sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Dieser Trottel«, murrte sie, damit war das Thema beendet.
    Clemens Röttger kam zu Annikas Tisch und stellte Kaffee und Kuchen
ab.
    »Marmorkuchen«, sagte er. »Den hast du als Kind immer am liebsten
gegessen. Und deinen Kaffee trinkst du mit Milch und einem Stück Zucker. Oder
hat sich daran in den letzten Monaten was geändert?«
    »Nein. Es ist alles
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