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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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eine
riesige brandneue Carrerabahn geschenkt bekommen hatte.
    »Die Musiker sollen aufhören zu spielen! Hört ihr denn nicht? Brecht
doch endlich das Fest ab!«
    Immer mehr Menschen blickten sich um, langsam erstarb der Lärm. In
Marios Gesicht spiegelten sich jetzt Unverständnis und Verwirrung, und dann,
zuletzt, kurz bevor er von den Schultern der Schützen rutschte und in die Menge
abtauchte, sah Annika noch unsagbare Enttäuschung.
    Die Beerdigung von Ewald Tönnes fand am darauffolgenden
Freitag statt. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, an dem es nach
abgeernteten Weizenfeldern duftete und Insekten im goldenen Licht der Sonne
trudelten. Alles war so hell und voller Leben, dass es Annika geradezu obszön
vorkam, zum Friedhof zu fahren, um einen Menschen unter die Erde zu bringen.
    Als sie in ihrem schwarzen Kleid vor die Haustür trat, wäre sie am
liebsten in den Garten gelaufen, um mit Maritas Kindern zu spielen oder sich
mit einem Buch unter den Birnbaum zu setzen. Doch daran war natürlich nicht zu
denken.
    Ihre Schwester tauchte hinter ihr auf, das schwarze Kostüm sah
merkwürdig an ihr aus. Irgendwie standen ihr Arbeitssachen besser, fand Annika.
    »Bist du fertig?«, fragte Marita. »Wir müssen los, sonst kommen wir
zu spät. Der Gottesdienst beginnt um drei Uhr. Mutter fährt mit Tante Ada.«
    Annika löste sich widerwillig vom sonnendurchfluteten Garten. »Ich
bin fertig. Meinetwegen kann es losgehen.«
    »Gut. Die Kinder sitzen schon im Auto. Wir setzen sie auf dem Weg
bei Lütke-Woltering ab.« Marita zog die Haustür zu. »Ich will ihnen erst gar
nicht die Gelegenheit geben, während der Zeremonie etwas anzustellen und mich
vor allen Leuten zu blamieren.«
    Marita war alleinerziehend. Andi, der Vater ihrer beiden Kinder,
hatte sich vor Jahren aus dem Staub gemacht. Er war ein Metallbauer aus Erfurt,
der kurz nach der Wende ins Münsterland gekommen war, um Arbeit zu finden. Doch
es waren nur ein paar Gelegenheitsjobs herausgesprungen, bis er sich in Marita
verliebt und von da an auf dem Bauernhof mitgearbeitet hatte. Das Leben auf dem
Land war aber nichts für ihn gewesen, und als die Beziehung in einer tiefen
Krise gesteckt und er plötzlich ein Stellenangebot aus Erfurt bekommen hatte,
war er von heute auf morgen einfach verschwunden.
    Die Kinder auf der Rückbank wirkten ungewohnt friedlich, als Annika
ins Auto stieg. Emma, die Kleinere von beiden, döste in ihrem Kindersitz, und
Paul, ihr älterer Bruder, spielte stumm mit einem Playmobilmännchen auf seinem
Oberschenkel.
    Marita startete den Motor. Beim Zurücksetzen bemerkte sie einen
Joghurt-Fleck auf ihrer schwarzen Bluse und rubbelte nervös daran herum. Annika
schnallte sich an. Eine Weile fuhren sie wortlos über die Landstraße, dann
brach Marita das Schweigen.
    »Was machst du eigentlich im nächsten Jahr? Hast du schon Pläne?«
    Annika sah sie verwundert an. »Wie meinst du das? Was sollte ich
denn für Pläne haben?«
    »Keine Ahnung.« Maritas Augen lagen hinter der Sonnenbrille
verborgen, ihre Stimme klang beiläufig. »Ich dachte, vielleicht willst du dich
ja fürs Sommersemester an der Universität einschreiben. Die Frist fürs
Wintersemester ist ja schon abgelaufen, aber der nächste Sommer kommt
schneller, als man denkt.«
    Das alte Thema, dachte Annika. Geht das schon wieder los.
    »Gefällt es dir nicht, dass ich auf dem Hof mithelfe? Möchtest du
mich loswerden?«
    »Nein, natürlich nicht.« Marita stieß einen Seufzer aus. »Ehrlich
gesagt, weiß ich gar nicht, wie wir die viele Arbeit ohne dich bewältigen
sollen. Trotzdem. Ich will nicht, dass du bei mir versauerst. Du bist einfach
kein Bauer, das ist nicht dein Ding. Mensch, Annika, du bist jetzt einundzwanzig!
Wenn du nicht irgendwann eine Ausbildung oder ein Studium machst, wirst du es
eines Tages bereuen.«
    Marita warf ihr einen Seitenblick zu.
    »Mir gefällt es aber so, wie es ist«, sagte Annika.
    Marita schien zu überlegen, was sie darauf erwidern konnte. Doch ihr
fiel offenbar nichts ein, denn sie schwieg. So gut sie darin ist, eine
polternde Bemerkung herauszuhauen, dachte Annika, so schlecht ist sie darin,
ein sensibles Thema anzusprechen. Aber ihr selbst ging es gar nicht anders.
Auch sie tat sich schwer, über Dinge zu sprechen, die man nicht mit einem Witz
auflockern konnte. Also sagte keine mehr ein Wort, bis sie den Hof von
Lütke-Woltering erreichten.
    Paul sprang sofort aus dem Wagen. Er kannte sich aus, sein
Schulfreund lebte hier. Hinter
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