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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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Geschütze auf«, räumte sie ein. »Eine
wohldurchdachte Angriffswelle.«
    Sie passierten ein großes Verkehrsschild, das den Weg zur Autobahn
wies. Er betätigte den Blinker.
    »Und?«, fragte er. »Hat’s funktioniert?«
    Sie zögerte, doch dann breitete sich ein strahlendes Lächeln in
ihrem Gesicht aus. »Es hat.«
    Sie warf sich an seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf. Er
versuchte lachend, die Kontrolle über sein Auto zu behalten, und fuhr auf die
Autobahn.
    Erlend sackte in ihren Sitz zurück und betrachtete zufrieden die
regnerische Landschaft.
    »Auf nach Venedig«, sagte sie.

25
    Auf den Gräbern lag nasser, schmutziger Schnee. Annika konnte
den Frühling riechen, er mischte sich bereits seit Tagen in die kalte Luft.
Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Temperaturen stiegen, und wenn es so
weit war, würde für sie eine neue Zeit anbrechen.
    Sie hätte nicht sagen können, wann sie das letzte Mal an seinem Grab
gewesen war. Es schien ewig her zu sein. Bisher hatte sie es immer vermieden,
allein zu kommen. Da war eine unbestimmte Angst gewesen, ihre Trauer könnte so
groß werden, dass sie alles mitriss und Annika vollends unter sich begrub.
Deshalb hatte sie sich beschützter gefühlt, wenn ihre Mutter oder Tante Ada
dabei gewesen waren.
    Doch heute hatte sie keine Angst. Sie stand in der kühlen feuchten
Luft und sah auf das Grab hinab. Die Inschrift war tief in den Stein gemeißelt:
     
    Theodor Horstkemper
    26.03.1939–24.09.1992
     
    Die Trauer war ein fernes, vertrautes Gefühl. Ein stiller
Schmerz, ruhig und gleichmäßig wie die Dünung auf einem Ozean. Sie hatte so
sehr um den Verlust ihres Vaters getrauert, dass sie die Liebe ihrer Mutter gar
nicht wahrgenommen hatte. Sie hatte nicht bemerkt, was Sophia alles aus Liebe
zu ihnen ausgehalten hatte.
    Langsam hockte sie sich hin und zündete ein Grablicht an. Dann
strich sie sorgsam den Schnee von den Glasfensterchen.
    »Ich gehe fort«, sagte sie. »Ich verlasse den Hof. Es ist jetzt so
weit.«
    In sechs Wochen würde das Sommersemester an der Universität in
Münster beginnen. Sie hatte einen Studienplatz in Publizistik bekommen. Das
Vorlesungsverzeichnis lag seit Wochen zerfleddert auf ihrem Bett, sogar ein
Zimmer in einer WG hatte sie ergattert. Aus dem
Volontariat in Steinfurt war nichts geworden. Bernd hatte die Stelle bekommen –
er wollte lieber ohne Studium Karriere machen. Sollte er doch. Es war ihr
inzwischen egal, was er machte.
    Elmar war zu ihnen auf den Hof gezogen. Er hatte seinen Job bei der
Molkerei an den Nagel gehängt und seine Zelte bei Marita aufgeschlagen. Zu Annikas
Überraschung hatte er nicht nur die Herzen der Kinder im Sturm erobert, auch
Tante Ada konnte beim besten Willen nichts Schlechtes an ihm finden. Er machte
sich hervorragend in seiner Rolle als Milchbauer, ohne ihn wäre wohl alles zusammengebrochen.
    Tante Ada gab sich energisch wie eh und je, doch das konnte nicht
darüber hinwegtäuschen, dass sie einiges von ihrer Kraft verloren hatte. Sie
besuchte Sophia, so oft es ging, im Gefängnis. Dann erzählte sie ihr alles, was
auf dem Hof vor sich ging. Shakira hatte noch einmal gekalbt, trotz ihres
Alters war alles problemlos verlaufen. Die neue Futtermischanlage funktionierte
reibungslos, auch wenn es eine gewagte Investition war, jetzt, wo keiner
wusste, wie sich die Milchpreise entwickeln würden. Und ein paar streunende
Katzen waren aufgetaucht und begannen dank Emmas beharrlicher Zuwendung langsam
zahm zu werden.
    Klooke gab es nicht mehr, und Emma tat jetzt immer so, als wisse sie
gar nicht, worum es gehe, wenn nach ihr gefragt wurde. Sie hatte beschlossen,
sich von ihrer unsichtbaren Freundin zu trennen, und offenbar war es ihr geglückt.
    Wenn Ada aus dem Gefängnis zurückkehrte, war sie oft schweigsam und
verzog sich in den Stall zu ihren Kühen. Dann ließ man sie besser in Ruhe, auch
wenn das Essen dabei kalt wurde. Sie redete mit keinem darüber, dennoch war
allen klar, wie sehr es ihr das Herz brach, Sophia nicht mehr in ihrer Nähe zu
haben.
    Am Morgen nach der Trauerfeier war Annika in das Bastelzimmer ihrer
Mutter gegangen. Sie hatte die vielen Dekopuppen betrachtet, die Stoffe, die
Pinsel und Farben. Vor einem halb bemalten Koboldkopf war sie auf einen Hocker
gesunken und hatte zu weinen begonnen, erst still, dann immer heftiger, bis sie
schließlich gar nicht mehr aufhören konnte. Im Besucherzimmer des Gefängnisses
saß sie nun häufig bei ihrer Mutter, sie hielten einander die
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