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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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Etwas Größeres musste sich im Mais verbergen, keine fünf Meter von
ihr entfernt. Sie drückte den Korb an ihre Brust.
    »Hallo? Ist da jemand?«
    Doch wer sollte da schon sein? Sie kam sich lächerlich vor. Der
Häcksler näherte sich, sein Dröhnen wurde lauter und schluckte nun jedes
Geräusch. Sie drehte sich um und lief ihm entgegen.
    Clemens hielt die Maschine an, trat aus dem Führerhäuschen und
sprang auf das Stoppelfeld.
    »Lass mich raten. Marita kommt heute nicht.«
    »Paul muss zum Arzt, er hat sich den Kopf aufgeschlagen. Sie sagt,
es tut ihr leid.«
    Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Na großartig.«
    »Tante Ada hat dir etwas zu essen gemacht. Und Marita will zum
Ausgleich morgen deine Schicht übernehmen.«
    Er lehnte sich gegen das Schneidwerk, sein typisches, verschmitztes Lächeln
trat in sein Gesicht.
    »Also gut. Dann lass mal sehen, was du da hast.« Er nahm ihr den
Korb ab. »Das reicht ja für eine ganze Kompanie. Typisch Ada. Wer soll das denn
alles essen?«
    »Sie hat Apfelpfannkuchen gemacht. Die magst du doch so gerne.«
    Er lachte. »Das hast du ihr verraten, nicht wahr? Komm, setz dich zu
mir. Es reicht bestimmt für uns beide.«
    Sie setzten sich neben den Maishäcksler. Clemens breitete ein
Geschirrtuch aus und öffnete den Behälter. Sie redeten nicht viel, während sie
aßen. Im Anschluss holte er seine Zigaretten aus der Brusttasche und bot Annika
eine an. Das tat er erst, seit sie zwanzig geworden war, und sie fühlte sich
immer sehr erwachsen, wenn sie neuerdings gemeinsam rauchten.
    »Ich habe heute zwei Rehe gesehen«, sagte er und blies Rauchringe in
die Luft. »Die kamen direkt vor mir aus dem Mais geschossen. Zwei Ricken waren
es, ganz prachtvolle Tiere.«
    Annika blickte zu der Stelle, an der sie das Rascheln gehört hatte.
    »Hoffentlich fallen sie nicht den Jägern zum Opfer.«
    »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Clemens. »Sie waren stark und
schnell. Bestimmt sind sie schlauer als die Jäger.« Er legte den Arm um sie,
wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. »Schade, dass du
nicht dabei warst. Ich hätte sie dir gerne gezeigt.«
    Auf dem Rückweg blickte Annika nochmals in das Dickicht
aus Maispflanzen, doch diesmal blieb alles still. Clemens ließ hinter ihr die
Maschine an, das Dröhnen übertönte jedes andere Geräusch.
    Als sie das Rad auf die Straße schieben wollte, donnerte ein Lkw auf
sie zu. Er kam wie aus dem Nichts, der Mais hatte den Blick versperrt. Sie
schrie auf. Das Fahrrad fiel auf den Weg. Ein wildes Hupen ertönte, der Wagen
schlingerte in einem Bogen um sie herum. Dann war er auch schon vorbei, und
Annika stand in einer Wolke aufgewirbelten Staubs.
    Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Sie blickte dem Lkw
hinterher. Es war der Tanklastwagen der Molkerei, der in der Bauernschaft
unterwegs war, um die Milch abzuholen.
    Ewald Tönnes kam ihr in den Sinn. Sie hätte nicht sagen können,
weshalb, doch als sie dem Tanklastwagen nachblickte, musste sie plötzlich an
den toten Bauern denken. Mit einem Stirnrunzeln nahm sie das Rad auf, schwang
sich auf den Sattel und fuhr nach Hause, wo Tante Ada ihr Vorhaltungen machte,
weil sie nicht darauf geachtet habe, dass Clemens genügend aß, schließlich
waren zwei Pfannkuchen übrig geblieben.
    Während der Mittagsruhe saß Annika oben in ihrem Zimmer und las den
Lokalteil der Zeitung. Marita und Paul kamen vom Krankenhaus zurück. Der Kleine
trug einen Verband am Kopf, und Marita kümmerte sich um ihn. Irgendwann
klingelte unten das Telefon, kurz darauf hörte Annika aufgeregte Stimmen im
Wohnzimmer. Sie legte die Zeitung beiseite und ging leise hinunter.
    Während sie mit angehaltenem Atem den Stimmen lauschte, kam ihr mit
einem Mal die Nacht in den Sinn, in der ihr Vater gestorben war. Auch da hatte
sie am Klang der Stimmen gehört, dass etwas Schreckliches passiert war. Sie war
damals aus ihrem Bettchen geklettert und mit dem Teddy im Arm hinuntergeschlichen.
Auf dem Treppenabsatz hatte ihre Mutter sie abgefangen, das Gesicht leichenblass
und die Hände eiskalt. »Geh wieder ins Bett«, hatte sie gesagt, ohne Annika
richtig anzusehen. Ihre schönen schwarzen Locken waren ganz durcheinander
gewesen. »Mechthild und Marita sind da. Du musst dir keine Sorgen machen. Geh
jetzt schlafen.« Draußen vor dem Haus hatte ein Auto gewartet. Ihre Mutter war
nervös hinausgestolpert. Sie hatte den hübschen Mantel getragen, den Annika so
gemocht hatte, doch war er nur zur Hälfte
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