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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd
Autoren: Stefan Holtkötter
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gerade Mais in der Nachbarschaft, und ich habe versprochen, ihn zum
Mittagessen abzulösen.«
    Clemens Röttger besaß einen Fuhrpark mit Landmaschinen, und der
dazugehörige Maishäcksler wurde im Herbst von der gesamten Nachbarschaft für
die Ernte gebucht. Da nur Clemens und Marita in der Lage waren, die große
Maschine zu fahren, arbeiteten sie sich in wechselnden Schichten kreuz und quer
über die Felder von Erlenbrook-Kapelle.
    Unten in der Küche hörten sie schon Tante Ada, die lautstark auf den
Jungen einredete.
    »Was habe ich dir über das Spielen auf der Egge gesagt? Du weißt
ganz genau, dass du da nicht rumklettern darfst.« Ihre Stimme schwoll an, sie
hielt ihm eine ihrer berüchtigten Standpauken. »Irgendwann wirst du dir noch
das Genick brechen, wenn du partout nicht auf das hören kannst, was man dir
sagt. Aber wenn es so weit ist, brauchst du nicht zu mir angelaufen kommen.
Dann kannst du meinetwegen verbluten, du verfluchter Bengel.«
    Als sie die Küche betraten, rettete sich der Junge heulend in
Maritas Arme. Er zitterte am ganzen Körper. Tante Ada hatte es wieder einmal zu
weit getrieben. Sie stand vor der Anrichte: hochgewachsen, sehnig, die Arme
fest vor der Kochschürze verschränkt.
    »Ist doch nicht so schlimm«, flüsterte Marita. »Es wird alles gut.
Annika fährt mit dir zum Arzt.«
    »Du sollst mit mir zum Arzt fahren, Mama.«
    »So weit kommt es noch!«, polterte Tante Ada weiter. »Erst kannst du
nicht auf das hören, was man dir sagt, und dann soll es für dich noch
Extrawürstchen geben.«
    Marita warf ihr einen warnenden Blick zu. Der Junge klammerte sich
wie ein Ertrinkender an seine Mutter und begann hemmungslos zu schluchzen. »Du
sollst mit mir zum Arzt!«
    Tante Ada erkannte, dass sie übers Ziel hinausgeschossen war. Sie
presste die Lippen aufeinander, nahm einen Lappen und wischte über die
Anrichte.
    Marita blickte Hilfe suchend zu Annika.
    »Wie es aussieht, muss ich selber fahren«, sagte sie. »Kannst du
Clemens fragen, ob er meine Nachmittagsschicht übernimmt? Du kannst ihm sagen,
ich mache dann morgen den ganzen Tag für ihn.«
    Annika nickte. Sie hatte nichts dagegen, zu Clemens hinauszufahren.
Ganz im Gegenteil, denn sie hatte ihn seit fast drei Monaten nicht mehr
gesehen. Zuletzt bei der Beerdigung von Ewald Tönnes.
    »Aber du gehst nicht mit leeren Händen!«, mischte sich Tante Ada
ein. »Wenn Clemens schon unseretwegen den ganzen Tag arbeiten muss, soll er
wenigstens ein ordentliches Mittagessen bekommen.«
    Marita machte sich auf den Weg zum Arzt, und Tante Ada stellte sich
an den Herd und backte Unmengen von Apfelpfannkuchen, von denen Annika wusste,
dass Clemens sie leidenschaftlich gern aß. In dem Hängeschrank, der mit Adas
heiß geliebter Tupperware vollgestopft war und von Marita nur spöttisch »das
Depot« genannt wurde, fand die Tante den passenden Transportbehälter. Sie
kochte Kaffee, holte eine Flasche Apfelschorle aus dem Vorratsraum und packte
alles in einen Korb. Dann schickte sie Annika mit der Ermahnung los, sich zu
beeilen, damit das Essen nicht kalt würde.
    Es war nicht weit bis zum Maisfeld, keine fünf Minuten mit dem
Fahrrad. Annika musste ein Stück an der Landstraße entlang, die nach Altenberge
führte. Vorbei an Stoppelfeldern und abgelegenen Bauernhöfen, über den
Landwehrbach – und dann, hinter einem Eichenwald, lag bereits das Feld, auf dem
Clemens arbeitete.
    Schon von ferne sah sie den Häcksler. Ein riesiger dröhnender
Metallkäfer, der sich langsam durch die Maispflanzen fraß. Im Führerhäuschen
oberhalb des Schneidwerks saß Clemens, von Weitem wirkte er klein wie eine
Puppe. Ein Schlepper fuhr gerade vom Feld, auf dem Anhänger eine Ladung
zerhäckselter Pflanzen.
    Annika legte ihr Fahrrad ab, nahm den Korb und sprang über den
Graben. Die Stümpfe der geernteten Maispflanzen waren von zerrissenen Blättern
bedeckt, sie musste sich in Acht nehmen, um nicht zu stolpern.
    Neben der Fahrspur des Häckslers ragte der noch nicht geerntete Mais
wie eine Mauer empor. Sie folgte der Spur an den Pflanzen entlang. Clemens
Röttger hatte sie entdeckt, er ließ eine Hupe ertönen und hob die Hand. Annika
winkte zurück.
    Im Mais neben ihr begann es zu rascheln. Sie blieb stehen und
blickte neugierig hinein, doch die Pflanzen standen so eng, dass nichts zu
erkennen war. Es wurde wieder ruhig. Das wird ein Fasan sein, dachte sie. Oder
ein Feldhase.
    In dem Moment kehrte das Rascheln zurück, diesmal lauter. Das war
kein Hase.
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