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Bator, Joanna

Bator, Joanna

Titel: Bator, Joanna
Autoren: Sandberg
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aussteigen
und warten. Sogar einen eingeschriebenen Expressbrief ließ er sich nicht
gereuen, obwohl er sehr ungern Geld ausgab. Er münzte die schon leicht
abgenutzte Weiblichkeit seiner immer noch kinderlosen Gattin Barbara in die
einst ausgespähten Polster der jungen Verwandten um. Zehn Jahre war sie damals
jung gewesen, die kleinen Tittchen sprossen schon, ach, und wie sie an den
gefüllten Bonbons lutschte, die er ihr mitgebracht hatte! Familie war
schließlich Familie. Schnalzend leckte Kazimierz Maslak eigenzüngig den
Briefumschlag an und klebte ihn zu.
    Zofia nähte Jadzia einen neuen
Ärmel - der sich in Farbe und Muster von dem anderen unterschied - an den zerrissenen
Mantel, packte ihr sechs Brötchen mit Erdbeermarmelade in einen Korb und gab
ihr ein gutes Dutzend frische Eier und eine Kette mit getrockneten Pilzen für
Kazimierz mit. Sie küsste die Tochter zum Abschied auf die Stirn und ging
wieder nach Hause, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als der vom Wald
gebildete Tunnel den Zug mit Jadzia an Bord verschluckt hatte, verspürte Zofia eine
gewisse Erleichterung, es kam ihr vor, als sei mit ihrer Tochter auch der
Brandgeruch verschwunden, der ihr durch den Essig in die Nase gestiegen war.
    Nach vierundzwanzig Stunden und
dreimal Umsteigen kam Jadzia in Watbrzych an. Wartend stapfte sie in der
niedrigen Kuppelhalle im Kreis, doch Onkel Kazimierz tauchte nicht auf. Sie
genierte sich, in die Bahnhofskneipe zu gehen, aus der es verführerisch nach
Leberwurstbroten roch, sie war noch nie allein an einem solchen Ort gewesen.
Nach drei Stunden Auf und Ab über den schwarzweißen Schachbrettfußboden wurde
ihr schwindlig, und Jadzia ging auf die Bahnhofstoilette, um Pipi zu machen;
auf der Tür stand »Damen«, darunter mit Kreide »Panie« und darunter in braun
»Nutten«. Sie stellte den Kragen aus Kaninchenfell hoch, aus dem bei jedem
Atemzug einzelne kleine Büschel aufflogen, und knüllte in der Manteltasche
den Zettel mit der Adresse des Onkels. Auf eigene Faust ging sie hinaus. Sie
roch den Kohlenstaub in der frostigen Luft, der Himmel war blassgrün und
schwankte hin und her wie ein Betttuch, das nach der Wäsche gestreckt wird.
Glatt war es! Die ganze Stadt rutschte in diesem Winter aus, die Krankenhäuser
waren voll mit knochenbrüchigen eingegipsten alten Weiblein in geblümten
Kopftüchern, die von ihren Familien nicht abgeholt wurden, ohne sie war mehr
Platz, und der war schnell gefüllt. Die Säufer fielen von den Gehsteigen direkt
unter die schlingernden Autos, unterernährte Kinder sausten auf ihren
Schlitten geradewegs von den Kohlehalden auf die Straßen, und die
Verbrennungsanlagen in den Spitälern kamen kaum nach mit dem Verbrennen der
amputierten Gliedmaßen. Der Wind riss Fetzen aus schmierigem Rauch hin und her
und klatschte sie an die Hauswände, schwarze Klümpchen fügten sich zu einer
Kruste, die die auf den Straßen liegengebliebenen Schneehaufen überzog.
    Jadzia steigt nun die Stufen
hinunter, dicht an der Wand, die halbe Treppe hat sie schon geschafft, in der
linken Hand hält sie den Koffer, die rechte, an den Unterleib gepresst, trägt
schwer an dem vollen Eierkorb. Gleich werden sich die Geschichten von Jadzia
Maslak und Stefan Chmura ineinander verhaken und verzahnen, mit der Zeit auch
aneinander reiben. Reibung braucht ja ihre Zeit, sie braucht Druck und
mindestens zwei aneinander reibende Flächen. Das alles ist vorhanden. Kommt
Stefan von der Nachtschicht und will im Bahnhofskiosk Zigaretten kaufen? Oder
hat er trotz der Kälte Lust auf Orangenlimonade, weil er nicht von der Arbeit
kommt, sondern mit Kowalik gebechert und davon einen trockenen Mund bekommen
hat? Hauptsache jedenfalls, dass Jadzia jetzt das Gleichgewicht verliert, schon
hat sie den Korb mit den Eiern fallengelassen und segelt die Treppe hinunter,
rudert mit den Armen und kreischt Herrjeh! Stefan grätscht die mageren Beine
und breitet die Arme aus. Wie schön sie fliegt! Wie ein warmer Laib Brot, wie
ein Butterfässchen, wie ein Kuchenengel mit Zuckerguss. Als er sie aufgefangen
hat, wie Pionier Timur mit dem roten Halstuch, krümmt sich Stefan, der Wackere,
der Held - Geroj! - unter dem Gewicht, findet aber sofort die Balance wieder.
    Viele Male wird Stefan Chmura die
Szene auf der Treppe bei Namenstagen und Barbarafeiern und auch bei Silvesterpartys
nachspielen, und die Knappschaft wird ihm Beifall klatschen. Sie ist gefallen,
er hat sie aufgefangen, das nennt man Vorsehung, und die gefällt ihm
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