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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck
Autoren: Hakan Nesser
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Lust, etwas zu essen, ging dennoch hinein und bestellte mir einen Cappuccino. Zwei Vorstadtfrauen kamen herein und tranken grüne Drinks. Ich rauchte zwei Zigaretten. Ansonsten geschah nichts.
     
    Um Viertel vor eins tauchte er auf, fünf Minuten zu spät, ein langer, magerer Jüngling mit bleichem, pickligem Gesicht und wässrigen Augen. Kurz gestutztes Haar, so kurz, dass die Kopfhaut durchschien. Lederjacke, schwarze Jeans und Stiefel. Mir war sofort klar, dass es sich hier nur um einen weiteren Kontaktmann handelte.
    »Claus Rütter?«
    Das war der Name, für den ich mich entschieden hatte. Ich nickte und stand auf.
    »Folgen Sie mir.«
    Er sprach die Worte wie ein Schauspieler aus, der wusste, dass er nie im Leben die Rolle kriegen würde. Diese nicht und auch keine andere. Mit entschlossenem Schritt ging er vor mir über die Straße. Zeigte mit der Hand auf ein schwarzes Auto, das am Bürgersteig parkte. Ich stieg hinten ein, der Kontaktmann verschwand, und wir setzten uns in Bewegung.
    Zwei Männer. Beide mit dunkler Sonnenbrille, beide Kaugummi kauend. Der Fahrer sah wie ein ganz traditioneller Bodybuilder aus, ab und zu sehe ich mal einen in der Schule, auch wenn sie einen verschwindend geringen Teil unserer Schülerschar ausmachen.
    Der Mann an meiner Seite war dünner und älter. Er trug einen hellen Anzug und duftete intensiv nach Rasierwasser.
    »Angenehm«, sagte er und schüttelte mir die Hand.
    »Angenehm?«, fragte ich.
     
    Die ganze Transaktion war nach zehn Minuten vorüber. Ich wurde an der Haltestelle herausgelassen, achthundert Gulden ärmer, aber mit einer Handfeuerwaffe der Marke Berenger 39 und Munition, die ausreichte, dreißig Menschen umzubringen, wenn ich Lust hatte. Das alles trug ich in einer Schultertasche, die ich mir von der verstorbenen Frau Hellers ausgeliehen hatte, und als ich schließlich wieder in die Straßenbahn stieg, ertappte ich mich dabei, meinen Namen vor mich hinzumurmeln.
    Jakob Daniel Marr. Jakob Daniel Marr.
    Fast wie eine Beschwörung. Ein hilfloser Versuch, die Wirklichkeit in den Griff zu kriegen, die schon vor langer Zeit etwas Stärkerem und sehr viel Unbezähmbarerem gewichen zu sein schien. Vergeblich natürlich ... ebenso sicher, wie jede Münze eine Vorder- und Rückseite hat, ebenso unmöglich ist es, beide gleichzeitig vor Augen zu haben.
    Ich drücke mich unklar aus.
    Ich war fast ganz allein im Wagen, nur ich und eine alte Frau, die ein paar Reihen weiter saß und Armut verströmte. Auf weite Entfernung. Ihr roter Mantel war in einer Weise abgetragen, wie es rote Mäntel nie sein dürfen, die beiden Plastiktüten zu ihren Füßen waren überfüllt mit altem Krempel, aus ihren Überschuhen ragte Zeitungspapier heraus, unter der Baskenmütze schmutzigbraunes, ungekämmtes Haar. Vielleicht war sie eine der Obdachlosen unserer Stadt, vielleicht hatte sie noch eine Art Zuhause ...
    Ich weiß es nicht, und ich weiß nicht, warum es mir so schwer fiel, den Blick von ihr abzuwenden. Ich saß da, meine Waffe auf den Knien, und plötzlich wurde mir bewusst, dass mir die Tränen über die Wangen strömten.
    Ruhig und ungehemmt. Ich umklammerte meine Tasche, ich schaute die verlebte Frau an, die Straßenbahn rumpelte über die Weichen, und zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert weinte ich.
    Am Karlsmarkt stieg ich mit einem beunruhigenden Brennen in der Magengegend aus. Offensichtlich war alles bei weitem nicht so stabil, wie ich es mir während meines Aufenthalts draußen in Miijskens eingeredet hatte ... plötzlich konnte ich nicht mehr sagen, ob ich wirklich das durchführen wollte, was ich mir am Nachmittag vorgenommen hatte. Eigentlich sehnte ich mich nur noch danach, mich wieder in den rotgelben Bus zu setzen und zu meiner sicheren Heimstatt im Wald zurückzukehren. Oh ja, ohne Zweifel und ohne Bedenken.
    Dennoch überwand ich den Widerstand. Ich stieg aus der Straßenbahn aus und betrat das Telegrafenamt. Wählte Piirs’ Nummer.
    Zuerst antwortete nur der Automat, und ich wollte schon auflegen, als die aufgenommene Nachricht unterbrochen wurde und Piirs selbst am Apparat war.
    »Hallo! Piirs hier.«
    Er klang gehetzt. Schnell beschloss ich, mich aus dem Spiel zurückzuziehen.
    »Marr«, sagte ich. »Ich bin in der Stadt, aber ich kann nicht in die Praxis kommen. Ich wollte nur ...«
    »Ja?« »Wo kann ich diese ›Psychiatrische Zeitschrift‹ finden? Ich möchte das über R lesen.«
    »In der Staatsbibliothek«, sagte Piirs. »Die haben alle
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