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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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und hilft ihr aufzustehen.
    »Danke.«
    »Keine Ursache. Wird es jetzt gehen?«
    Anne nickt.
    »Gut, dann auf Wiedersehen.«
    »Auf Wiedersehen.«
    Ihr Vater und ihre Mutter wenden sich um und setzen ihren Weg fort. Rose beginnt wieder zu murren. Anne schaut ihnen nach.

    »Lebt wohl!«
    Die beiden verschwinden hinter der nächsten Ecke. Anne wischt die Tropfen weg, die ihr übers Gesicht rinnen, und betrachtet prüfend die Umgebung. Die Avenue ist gesäumt mit Häusern aus rotem Backstein. Anne kennt die Gegend. Ihr Atelier ist nur wenige Schritte entfernt. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stehen Müllcontainer an der Ecke einer engen und dunklen Sackgasse: die Unfallstelle. Anne bleibt ruhig, worüber sie selbst staunt. Sie empfindet ein seltsames Gefühl, zugleich ergriffen und verhalten, als gehörten diese Orte zu einem früheren Leben, in dem sie ihr Bestes zu geben versuchte, Fehler beging und Erfolge erzielte. Jetzt ist sie hier, ohne zu ahnen, was sie erwartet. Eine überschwängliche Freude überkommt sie, die Freude, diesen Augenblick zu genießen, ohne Reue um die Vergangenheit, ohne Furcht vor dem Morgen. Sie hat Vertrauen in diejenigen, die sie zurücklässt. Sie weiß, dass die anderen, ungeachtet des Schmerzes und der Trauer, es auch ohne sie schaffen werden. Endlich der innere Frieden. Sie fühlt sich frei wie nie zuvor.
    Um sie herum scheint alles völlig normal zu laufen. Fußgänger bewegen sich unter ihren Regenschirmen vorwärts. Sie reden, betreten und verlassen Geschäfte. Jugendliche rennen lachend vorbei. In der Mitte der
Kreuzung bemüht sich ein Polizist hartnäckig, das Hupen zu unterbinden.
    Anne ist fasziniert von dem, was sie sieht, dieser unglaubliche Mechanismus, diese Körper, diese Maschinen, diese Gebäude und der Wind und der Regen. Sie lacht, denn sie hört die Gedanken der Menschen, die ihr begegnen: Diese fragen sich, ob sie verrückt sei, da stehenzubleiben, wie angewurzelt, vom Regen durchnässt. Anne kümmert sich nicht darum. Sie ist einfach froh, unter ihnen zu weilen.
    Ein Taxi hält vor ihr. Die hintere Tür öffnet sich. Eine junge Frau steigt rücklings aus, das Haar zerzaust. Sie trägt scharlachrote Stiefel, eine Strumpfhose in Regenbogenfarben und einen bunt verzierten Regenmantel aus Polyester. Neugierig wiegt Anne den Kopf hin und her. Diese Frisur und diese Kleidung kennt sie. Es sind die ihren. Die Frau dreht sich um. Es ist Anne selbst.
    »Kommst du, Lucie?«
    Lucie gleitet vom Rücksitz auf den Bürgersteig, ganz allein. Sie kann gehen. Sie ist einige Monate älter geworden, vielleicht sogar ein Jahr. Stolz und gerührt betrachtet Anne ihre Tochter. Die goldblonden Haare sind lang und lockig. Sie ist kein Säugling mehr. Sie ist wunderbar, und außerdem lächelt sie ihr zu.

    Erkennst du mich wieder, mein Schatz?
    Anne stellt sich diese Frage, ohne eine Antwort zu erwarten. Selbst wenn Lucie sie wiedererkennen würde, was änderte das? Die Kleine ist da, und das genügt ihr.
    Hastig nimmt ihre Doppelgängerin ihre Tochter an der Hand und überquert im Zickzack zwischen den blockierten Autos die Avenue. Den Kopf umgedreht, wirft Lucie ihr weiterhin lächelnde Blicke zu, eine Aufforderung, ihnen zu folgen. Die beiden gehen in ein Gebäude. Die schwere schmiedeeiserne Tür schließt sich. Anne überdenkt noch einmal Tsepels Worte: die Falle der sicheren Behausung, nicht eindringen in die Gebärmutter. Aber möchte sie ihre Wiedergeburt wirklich verhindern? Ihr Verstand ist klar. Sie weiß, was sie riskiert, will jedoch nicht kehrtmachen. Genau dorthin muss sie. Aus freien Stücken überquert sie ruhig die Avenue. Ihre Schritte sind gesetzt, legen nacheinander den Weg zurück, den sie gewählt hat. Ihre Hand drückt gegen die metallene Flügeltür und stößt sie auf: Eine Halle im Jugendstil wird sichtbar. Anne schlüpft hinein. Ganz hinten warten ihre Doppelgängerin und Lucie vor einem Aufzugschacht. Die Eingangstür fällt mit einem lauten, dumpfen Geräusch ins Schloss. Lucie macht eine Drehung und lächelt noch mehr, als sie Anne näherkommen sieht. Die hölzerne Kabine durchquert die
hohe Stuckdecke und gelangt ins Erdgeschoss mit seinen Kacheln in Schachbrettmuster. Die Falttür teilt sich. Lucie und Annes Doppelgängerin betreten den engen Raum und wenden sich um. Vor ihnen steht Anne. Ihre Doppelgängerin fixiert sie, wartet ab, wie sie entscheidet.
    »Fährst du mit uns nach oben?«
    Amüsiert betrachtet Anne ihr Spiegelbild. Sie
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