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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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auseinandergegangen … Und du hast mich sofort wiedererkannt, obwohl wir uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben.«
    Er schaut ihr direkt in die Augen.
    »Wie erklärst du also, dass ich nun da bin?«

    Annes Lächeln trübt sich ein und verschwindet schließlich ganz.
    »Ich weiß nicht … Vorläufig bin ich da und du auch. Das ist doch das Wichtigste, oder?«
    Anne senkt erneut die Lider.
    »Verdirb mir bitte nicht diesen Augenblick. Sonst bringst du mich zum Weinen.«
    Er streckt den Arm aus, ergreift ihre Hand und drückt sie zwischen seinen Handflächen.
    »Du siehst, ich kann dich berühren, und du kannst mich berühren. Du spürst meine Hand, stimmt’s? Sie ist warm. Du kannst auch Hector streicheln und sogar unsere Gerüche wahrnehmen. Dennoch sind wir alle tot, und ich bin nicht wirklich da.«
    Anne beißt sich auf die Lippen, um ihre Tränen zurückzuhalten.
    »Hör auf, bitte.«
    »Ich kann nicht, Anne. Das weißt du sehr gut. Du hast mich hierherkommen lassen, damit ich es dir sage; damit du nicht allein erkennen musst, was du schon weißt; damit ich es dir deutlich mache und dich tröste. Ich bin dein Mut und deine Liebe. Ich bin ein Teil von dir.«
    Anne zieht die Nase hoch.
    »Evan, deine Eltern, Lucie, Henry - sie alle kannst du nicht berühren. Eure Wege haben sich getrennt. Du bist von ihnen gegangen.«

    »Aber warum sehe ich sie dann? Warum höre ich sie?«
    »Wäre es dir lieber gewesen, dass alles auf einen Schlag endet, dass sie für immer verschwinden, ohne dass du Zeit gehabt hättest, ihnen Lebewohl zu sagen?«
    Anne lacht über sich selbst und betrachtet Evan. Sein Brustkorb bläht sich mühsam auf und sinkt dann plötzlich zusammen.
    »Du hast recht. Ich habe sie gesehen. Ich habe mit ihnen gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie liebe … Ich habe versucht, sie zu trösten. Und ich habe mich entschuldigt. Ich glaube, sie haben mich gehört. Ja, irgendwo glaube ich, dass sie mich gehört haben.«
    Sie wendet sich wieder ihrem Großvater zu.
    »Glaubst du das nicht auch?«
    »Warum stellst du mir weiterhin Fragen, deren Antworten du kennst?«
    Anne seufzt.
    »Es ist schwer, dies zu akzeptieren.«
    »Natürlich, aber die Tatsache, dass ich hier bin, bedeutet: Du hast es schon akzeptiert … Bist du also bereit, deinen Weg fortzusetzen?«
    Anne runzelt die Stirn. Der Großvater hebt ihre Hand, drückt zärtlich einen Kuss darauf und pustet ihn weg wie eine Wimper, wie einen Segen.
    »Du kannst nicht ewig hierbleiben. Du hast deine Aufgabe erledigt, oder?«

    Besorgt fixiert sie ihn. Er hört nicht auf, ihr zuzulächeln.
    »Starr mich nicht so an. Du wolltest uns sehen, und du hast uns alle gesehen. Du wolltest uns Lebewohl sagen, und du hast es getan. Du hast jetzt keine Angst mehr, nicht wahr? Warum hast du dann kein Vertrauen?«
    Plötzlich beginnt Evan zu husten. Hector fährt zusammen. Auch Tsepel erwacht. Er richtet sich auf und beobachtet Evan, dessen Kopf, an die Schulter des Leichnams gelehnt, infolge des Hustens hin und her geworfen wird. Trotzdem schläft er weiter. Tsepel reibt sich das Gesicht, nimmt seine Gebetsschnur und widmet sich wieder dem Gebet.
    »Edle Frau, wenn es dir noch nicht gelungen ist, den Zustand der Befreiung zu erlangen, wirst du bald dein altes Leben für immer hinter dir lassen, um ein neues anzufangen …«
    Anne lächelt und dreht sich erneut ihrem Großvater zu.
    »Schau an, auch er …«
    Sie blickt nach rechts, nach links, um ihn und Hector zu suchen. Keine Spur von ihnen, die Schlucht ist wie ausgestorben. Beide sind verschwunden. Anne seufzt.
    »Du wirst Männer und Frauen sehen, die sich gerade geschlechtlich vereinigen. Vermeide vor allem, zwischen sie zu treten. Sonst läufst du Gefahr, von einem
Uterus erfasst zu werden. Bemühe dich vielmehr, dessen Pforte zu verschließen. Das ist deine letzte Gelegenheit, dem Leiden einer neuen Existenz zu entkommen. Es gibt fünf Methoden, die Pforte des Uterus zu verschließen. Behalte sie im Gedächtnis, denn sie ermöglichen dir jederzeit, nicht den Weg zu beschreiten, wo dein Karma dich treibt, und in deinen Entscheidungen frei zu bleiben.
    Versuche zunächst, dein Denken vom Geschlechtsakt zu lösen, indem du den Mann als einen spirituellen Meister und die Frau als seine Gefährtin betrachtest. Wähle solche Personen aus, die du aufgrund ihrer Weisheit und ihrer Güte achtest, konzentriere dich und bitte sie, dir ihre Lehren zu übermitteln. Die Gebärmutter sollte sich ganz von selbst
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