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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Autoren: Bruno Portier
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wieder aus der Hosentasche, lüftet den Schlafsack und legt sie zwischen Annes bläulich rote Brüste.
    »Ein letzter wichtiger Punkt. Möglicherweise wirst du geliebte Wesen sehen, die du verlassen hast. Binde dich nicht an sie, denn sie könnten dich von deinem Weg abbringen. Bleibe konzentriert, empfänglich und
ruhig, ohne Verlangen und Leidenschaft, ohne Abneigung und Streitlust.«
    Als er Tsepel neben sich bemerkt, öffnet Evan mühsam ein wenig die Augen und deutet ein mattes Lächeln an. Der alte Mann erwidert es und richtet sich auf.
    »Ich werde einen Arzt holen, der dich versorgt. Er wird morgen hier sein. Ich habe dir etwas zu trinken und zu essen dagelassen, außerdem meine Streichhölzer, mit denen du das Feuer anzünden kannst, falls du die Kraft dazu hast.«
    Tsepel beugt leicht den Kopf, umfasst Evans Hand in Höhe des Kinns und verabschiedet sich respektvoll. Ohne zu zögern macht er auf dem Absatz kehrt und entfernt sich schnellen Schrittes. Evan schaut ihm kurz nach. Anne sitzt an seiner Seite.
    »Du wirst sehen, er wird zurückkommen und Hilfe mitbringen. Halte durch. Es wird nicht mehr lange dauern.«
    Evan schließt wieder die Augen. Tsepel beginnt, den Abhang der Schlucht hochzuklettern. Er stolpert, klammert sich an Wurzeln, rafft sich auf, schlittert, sinkt ins Geröll. Weiße und schwarze Steine rutschen unter seinen Füßen weg. Sie stürzen in die Tiefe und reißen andere Steine mit. In wenigen Sekunden verwandelt sich das Geröll in eine Lawine. Die schwarzen und weißen Steine verschmelzen zu einer gräulichen Flut. Der
Fels verflüssigt sich, wird zu einem Strom, der rasch anschwillt.
    Regungslos schaut Anne zu, wie dieses Wasser über sie hereinbricht. Weder ein Gedanke noch ein Angstgefühl versetzt sie in Unruhe. Gelassen erwartet sie, was kommt. Die Sturzsee überspült sie, schwemmt sie fort. Wie ein Korken wirbelt sie in den Strudeln umher, treibt an die Oberfläche. Hinter ihr entfernen sich in rasendem Tempo die Schlucht, Evan, ihr Leichnam. Sie bleiben unversehrt. Die Wassermasse hat sie nicht erfasst.
    Die Landschaften ziehen vorüber und reihen sich immer schneller aneinander. Im Nu verlässt Anne den Berg, durchquert die Ebene, überfliegt eine Stadt. Einzelheiten verblassen, erlöschen. Die Geschwindigkeit ist zu hoch. So weit das Auge reicht, gibt es nichts mehr außer dem Wasser, dem Himmel und der Luft. Schon zeichnet sich am Horizont ein gewaltiger Mahlstrom ab. Anne wird von einer rotierenden Bewegung erfasst. Ihr Körper beginnt sich zu drehen, kreist dann immer schneller, mitgerissen von den Wirbeln, die sich in dem Maße zusammenziehen und beschleunigen, wie sie sich dem Zentrum nähern. Ohne einen Schrei auszustoßen, gibt Anne sich völlig hin und umfängt mit ausgebreiteten Armen das Wasser. Jeder Kontrolle entzogen, ist ihr Geist frei, bereit zu empfangen, endlich offen. Die letzten
Wirbel schießen in das schwarze Loch. Anne wird verschlungen.

    Die Ampel springt auf Grün. Ein Hupkonzert erschallt. Die Avenue ist verstopft. Es regnet. Anne liegt auf dem Bürgersteig, durchnässt, leblos. Eine Hand klopft ihr auf die Schulter.
    »Madame!«
    Anne öffnet die Augen. Neben ihrer Nase, auf den feuchten Pflastersteinen, zwei blank geputzte Schuhe.
    »Madame!«
    Anne, die sich kaum zu bewegen wagt, dreht langsam den Kopf. Über sie gebeugt und ihr mit einem Regenschirm Schutz bietend, steht ihr Vater.
    »Fühlen Sie sich nicht wohl, Madame?«
    Sie starrt ihn entgeistert an.
    »Papa? Was machst du hier?«
    Annes Vater richtet sich ebenso schlagartig wie verblüfft auf.
    »Kennen wir uns?«
    Hinter ihm zerrt eine Frau am Ärmel seines Mantels.
    »Los, wir gehen jetzt!«

    Anne stützt sich auf den Ellbogen und setzt sich lächelnd hin. Sie erkennt die Klangfarbe und den Tonfall der Stimme wieder.
    »Kannst du mich nicht mal eine Sekunde in Ruhe lassen!«
    John dreht sich um und blickt auf seine Frau.
    »Siehst du nicht, dass es ihr nicht gutgeht?«
    Anne strahlt übers ganze Gesicht. Ihre Mutter ist ebenfalls da, sogar in bester Verfassung, aber auch sie hat Anne nicht erkannt. Liebenswürdig neigt John erneut den Oberkörper und reicht ihr einen Arm.
    »Halten Sie sich fest, nehmen Sie meine Hand.«
    Aus Angst, durch diese hindurchzufassen, zögert Anne einen Moment. Vorsichtig streckt sie die Finger aus und legt einen Zeigefinger auf seine Hand. Die eine Haut berührt die andere. Erleichtert hebt sie den Kopf und umschließt fest seine Faust. Er zieht sie zu sich
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