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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Autoren: Tobias O. Meißner
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anrichtete.
    Der Mann schien ein klares Ziel zu haben: den Kommandanten der Stadtbüttel. Auf diesen arbeitete er sich zu mit seinen seltsamen schleifenden Sprüngen, die ihn aussehen ließen, als führte er einen fremdartigen Volkstanz auf. Oben auf den Dächern klackten wieder die Armbrüste. Indencron, der selbst einmal versucht hatte, eine zu spannen, musste anerkennen, dass sie schnell waren, offensichtlich hervorragend ausgebildet in dem, was sie taten.
    Der Verurteilte entging dem einen Bolzen, indem er einen Büttel griff und hinter sich zerrte, der dadurch noch im Schmerzensschreien stumm geschossen wurde. Der andere Bolzen traf den Verurteilten in das linke Schulterblatt. Drang ein. Blieb stecken. Der Verurteilte reagierte nicht darauf. Als wäre er bereits ein Leichnam, der sich vermehrte, indem er weitere Leichen zeugte.
    Die Menge kämpfte miteinander, anstatt einträchtig weg von der Bühne zu fliehen. Es gab zu viele widersprüchliche Richtungen, zu viele Ziele. Einige wollten jemanden retten, andere nur sich selbst entfernen. Man kämpfte mit Zähnen und Klauen. Man erdrückte sich, beinahe wie aus Zuneigung. Und man kam kaum fort von der Todesbühne, als ginge von ihr ein Bannzauber aus.
    Der Verurteilte trieb das Beil durch die Büttel wie eine Herde Tiere durch einen Ort. Er bahnte sich Wege, wo keine waren. Zu springen brauchte er nicht mehr, denn alles ballte sich am Rand um den Kommandanten.
    Der Tod des Kommandanten war ein eigenartiger. Er schrie nicht vor Schmerz oder vor Wut, nein, er schimpfte mit seinen Untergebenen. Er suchte die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen, die ihn im Stich gelassen oder falsch gehandelt hatten. Und so starb er, indem er sich nichts eingestand, indem er bis zuletzt darauf beharrte, ein Einsamer im Recht zu sein, während sich in Wirklichkeit sein Innerstes mit dem der anderen zu einem ununterscheidbaren Gemenge vermischte.
    Der Verurteilte war ein Gleichmachen.
    Sie hatten ihn abfertigen wollen als einen, der keinen Platz unter ihnen hatte, und nun schuf er sich Platz und zeigte ihnen auf, dass keiner von ihnen ihm ebenbürtig war.
    Die Armbrustschützen waren schnell. Indencron konnte den Impuls kaum unterdrücken, »Obacht!« zu rufen. Er identifizierte sich mit dem Einzelnen, der die Masse schlachtete. Vielleicht, weil er sich auch immer von den anderen unterschieden hatte, mit seinen Ansichten über den Irrweg der Zivilisationen. Aber er war immer schwächlich gewesen dabei, schwächlich und von Zweifeln zerfressen. Hier wurde ihm eine andere Vorgehensweise vor Augen geführt. Wenn es ums nackte Überleben ging, gab es keine Zweifel mehr.
    Der Verurteilte entging den nächsten beiden Schüssen, indem er den Leichnam des Kommandanten als Schild benutzte, während er diesen untersuchte. Irgendetwas schien der Kommandant bei sich zu haben, das der … natürlich! Indencron fasste sich an den Kopf. Der Schlüssel für die Fußkette. Der Kommandant erzitterte unter dem Einschlag der beiden Bolzen. Der Verurteilte schleuderte den Toten von sich, ging in die Hocke und nestelte völlig ohne Deckung an seinen Füßen herum. Er musste schneller sein als das Nachladen der Schützen. Schneller als die Büttel, die ihn vielleicht erneut angreifen würden, dies aber nicht wagten. Die Büttel ergriffen jetzt die Flucht. Ihr Kommandant war gefallen. Und keinem von ihnen bezahlte die Stadt auch nur annähernd genug, dass er sein Leben für sie weggeworfen hätte.
    Die Menge kreischte. Blut hatte sich seinen Weg bis zum vorderen Rand der Bühne gebahnt und begann nun auf den Marktplatz zu tropfen. Dies war eine Hinrichtung, die man so schnell nicht vergessen würde. Nicht eine Hinrichtung von vielen, sondern eine Hinrichtung vieler.
    Die Kette klirrte zu Boden.
    Der Verurteilte war jetzt vollkommen frei.
    Er nahm das schwere Beil auf, rannte zum vorderen Bühnenrand und sprang mitten hinein in die Menge. Die beiden nächsten Bolzen surrten über ihn hinweg und knallten hinter ihm ins Holz der Bühne. Sein Sprung war zu schnell, zu wild gewesen.
    Er landete auf den Köpfen und Schultern von Gaffern, die sich nicht anders zu helfen wussten, als ihn von sich zu drücken, hochzuheben, weiterzuschieben. Für ein paar Momente schwamm er über die Köpfe der schreienden Menschen wie durch einen haarigen See. Dann ließ man ihn fallen und stob auseinander. Er verschwand in der Menge. Die Schützen, schwitzend mit Nachladen beschäftigt, hatten kein Ziel mehr.
    Von der
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