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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall
Autoren: Mary Nichols
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schob. Sonst würde er gestatten, dass ich mich ohne Aufsicht umziehe.
    “Hier herein”, sagte die Alte mürrisch, als sie im oberen Stockwerk angekommen waren, und öffnete die Tür zu einem Schlafzimmer. “Und zieht diese grässlichen Hosen aus. Sie beleidigen die Augen einer anständigen Frau. Wenn es nach mir ginge, würdet Ihr eins mit der Hundepeitsche bekommen und an den Schandpfahl gestellt werden, aber nicht meinen Bruder heiraten. Ihr verdient ihn gar nicht. Und er verdient auch nicht Euresgleichen.”
    “Sehr richtig”, murmelte Lydia leise und sah sich aufmerksam in dem spärlich möblierten Zimmer um. Es gab ein Bett, einen Waschständer mit einem gefüllten Wasserkrug, einen Tisch mit einer Vase darauf und einen Stuhl. Das einzige Fenster war von einer Gardine verhüllt. Doch da Lydia wusste, dass sich an den Außenwänden des Hauses keine Rankspaliere befanden, blieb für eine Flucht ohnehin nur die Tür.
    “Sobald ich das Gerede hörte, sagte ich zu ihm, ‘Tom’, sagte ich, ‘mache einen Rückzieher, einen Rückzieher so schnell du kannst, ehe es zu spät ist’”, schimpfte Mrs Sutton weiter. “Aber glaubt Ihr, er hätte auf mich gehört? Kein Wort.”
    “Tom?” wiederholte Lydia, während sie an den Knöpfen ihres Rockes nestelte. “Ihr nennt ihn Tom?”
    “Das ist ein anderer Name von ihm”, entgegnete die Alte hastig. “Wir haben ihn als Kinder benutzt. Und nun beeilt Euch, sonst seid Ihr nicht fertig, wenn er Euch rufen lässt.”
    Fünf Minuten später war Lydia in ein weites rotes Gewand gehüllt, während Mrs Sutton versuchte, das Mieder mithilfe von Stecknadeln Lydias schlanker Gestalt anzupassen. Das Kleid war offensichtlich für eine weitaus fülligere Person angefertigt worden, und Lydia vermutete, dass es der verstorbenen Lady Thomas-Smith gehört hatte. Ob Sir Arthur es wohl wiedererkennen würde?
    Aber das kann mir ja völlig gleichgültig sein, sagte sich Lydia, denn ich habe keineswegs die Absicht, in das kleine Wohnzimmer zurückzukehren, um dort mit Sir Arthur getraut zu werden. Mrs Sutton hatte sich jetzt zu ihren Füßen niedergehockt, um den Saum des Kleides zu kürzen. Sekundenlang überlegte Lydia. Dann ergriff sie den Wasserkrug und schlug ihn mit aller Wucht auf den Kopf der Alten, die inmitten von Scherben in einer Pfütze zusammensackte und reglos liegen blieb. Mit angehaltenem Atem lauschte Lydia, ob sich im Hause irgendetwas regte. Dann raffte sie den Rock, warf noch einen mitleidigen Blick auf Mrs Sutton und verließ leise das Zimmer, das sie sorgfältig hinter sich abschloss.
    Vorsichtig schlich sie die Treppe hinab. Unten angelangt blieb sie stehen, um sich über ihren Standort zu orientieren. Als sie die Richtung, in der die Eingangshalle liegen musste, ausgemacht hatte, eilte sie den teppichbelegten Korridor entlang zur Eingangstür. Dort aber saß ein Lakai mit dem Rücken an der Wand auf einem Schemel. Während Lydia noch überlegte, wie sie an ihm vorbeikommen sollte, merkte sie, dass der Mann auf seinem Wachposten eingeschlafen war. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht dort aushalten müssen, und nun dämmerte bereits der neue Tag empor.
    Auf Zehenspitzen huschte Lydia an ihm vorüber und trat hinaus ins Freie.

11. KAPITEL
    “Weißt du eigentlich, wer Sir Arthur Thomas-Smith ist?” erkundigte sich Ralph bei Freddie, während sie in raschem Tempo über die alte römische Landstraße zu der Abzweigung nach Southminster schritten. Robert Dent war zurückgeblieben, um Joe in die Hütte zu schleppen und dort einzuschließen.
    “Er ist ein Nabob, der in Indien fett und reich geworden ist, genau wie du”, entgegnete Freddie erbittert. “Während ich als einfacher Soldat halb verhungert und halb erfroren Sklavenarbeit verrichten musste, hast du in einem warmen Klima und in Überfluss gelebt und konntest kommen und gehen, wie du wolltest.”
    “Aber ich durfte genauso wenig nach Hause zurückkehren wie du, und das warme Klima konnte verdammt heiß sein, wie ein Fegefeuer. Auch das Fieber, das dort grassierte, war nicht besser als das Ungemach, das du erdulden musstest, glaube mir. Indes ist jetzt nicht die Zeit, um über unser Exil zu reden. Sage mir lieber, wo du Sir Arthur begegnet bist, wenn nicht in Indien.”
    “Ich lernte ihn Ende letzten Jahres in Paris kennen. Die Franzosen hatten mich in Kanada gefangen genommen und dann mit dem Schiff zurück nach Frankreich gebracht. Er war so eine Art Geheimdienstoffizier und verhörte fast alle
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