Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
nicht Claudia, sondern dem Mikrophon, das sicherlich noch immer jedes seiner Worte aufzeichnete. »Sie täuschen sich, ich bin nicht zu erpressen.«
    Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß das tatsächlich stimmte. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Niemand würde ihn fragen, was er getan hatte. Es spielte keine Rolle. Claudia war erwacht. Gegen jede Hoffnung, gegen all seine wissenschaftliche Überzeugung und die seiner Kollegen hatte sie die Mauer niedergerissen, hinter der sich ihr Bewußtsein mehr als ein halbes Jahrzehnt verborgen gehalten hatte, und das war alles, was im Moment interessierte. Sie erinnerte sich. Vielleicht nicht einmal wirklich. Vielleicht nur an das, was ihr diese erpresserische kleine Ratte erzählt hatte, aber das war gleich. Noch gestern hatte sie nicht einmal gewußt, wer sie war.
    »Wann hat er es dir erzählt?« fuhr er aufgeregt fort. Er mußte sich zusammenreißen, damit sie seine Erregung nicht zu deutlich spürte. Vielleicht war die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet; eine unbedachte Bewegung mochte genügen, sie wieder ins Schloß zu werfen, und das möglicherweise für immer. Artner war wild entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen; er hatte den Fuß einmal in der Tür, und dort würde er bleiben, selbst wenn er ihm dabei zerquetscht wurde. Aber er mußte behutsam vorgehen.
    »Heute? Gestern? Was genau hat er erzählt?«
    »Nicht der Pfleger«, antwortete Claudia mit einem Lachen, als hätte er etwas ungemein Naives gefragt. »ER.«
    »Er? Wer... Von wem sprichst du? War außer mir noch jemand hier? Einer der anderen Ärzte vielleicht?«
    »Er ist noch immer hier«, antwortete Claudia. »Ich habe so lange auf ihn gewartet, aber ich wußte immer, daß er kommt. Er hat es mir gesagt, und was er sagt, das hält er auch ein.«
    Artner nickte. Er war nicht überrascht. Auch nicht enttäuscht. Von all den Klischees, die über Geistesgestörte bei den - sogenannten - Normalen existierten, kamen Phantome und körperlose Stimmen, die Befehle erteilten, der Wahrheit vielleicht am nächsten. Aber er kam endlich auf die richtige Idee, den Umkehrschluß aus Claudias Worten zu ziehen und zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß der Pfleger das Mikrophon tatsächlich abgeschaltet hatte, und zog sein eigenes Diktiergerät aus der Tasche. Er schaltete es ein und legte es deutlich sichtbar auf die Bettdecke zwischen Claudia und sich. Das Mädchen betrachtete es neugierig. Das gleichmäßige Rotieren der winzigen Spulen faszinierte sie sichtlich.
    »Dieser... Er«, begann Armer vorsichtig. »Wer ist er? Wie sieht er aus? Ich meine - ist er nur eine Stimme, oder hat er auch einen Körper?«
    »Natürlich hat er einen Körper!« antwortete Claudia lachend, diesmal in einem Ton, der ganz deutlich machte, daß sie mittlerweile ihn für verrückt hielt.
    »Ich nehme an, er kommt dich ab und zu besuchen«, vermutete Artner.
    »Er ist hier«, antwortete Claudia.
    »Immer? Ich meine: auch jetzt, in diesem Augenblick?«
    »Aber natürlich«, sagte Claudia. Sie seufzte, zog die Beine unter den Körper und rückte ein kleines Stück von ihm fort. »Das ist ein dummes Spiel«, sagte sie. »Ich will es nicht mehr spielen.«
    Fast ohne daß er es spürte, schlich sich ein Lächeln in Artners Züge. Er hatte beinahe vergessen, daß er es im Grunde mit einer Elfjährigen zu tun hatte, die sich nur zufällig im Körper einer jungen Frau aufhielt. Wenn das Wunder Bestand hatte, würde es sicher interessant sein zu beobachten, in welchem Tempo ihr Geist die Zeit aufzuholen imstande war, die ihr Körper ihm voraus hatte.
    »Also ist er auch jetzt hier«, sagte er. »Und wo? Ich... würde ihn gerne sehen.«
    »Hinter dir«, antwortete Claudia. »Du mußt dich nur herumdrehen, dann kannst du ihn sehen. Aber ich weiß nicht, ob du das wirklich willst.«
    Artner drehte sich nicht herum. Er wußte, was er sehen würde - nämlich rein gar nichts. Doch er wußte auch, daß dies ein gefährlicher Moment war. Er hatte den Fuß wieder ein kleines Stückchen weiter in die Tür geschoben, aber er mußte nun aufpassen, daß er sie nicht versehentlich selbst zuwarf.
    »Er spricht also mit dir«, sagte er. »Und was sagt er? Ich meine: Erzählt er dir Geschichten, oder gibt er dir Befehle? Stellt er Fragen?«
    Hinter ihm war ein Geräusch. Etwas raschelte. Nein, kein Rascheln. Es war ein Laut, als würde ein prall aufgeblasener Luftballon von einer Faust zusammengedrückt. Beinahe hätte Artner sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher