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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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als wäre sie in krassem Gegensatz zu ihrem Krankheitsbild in einem ewigen Tanz gefangen, aus dem sie nicht mehr ausbrechen konnte. Verdammt zu immerwährender Grazie, die selbst die kleinste ihrer seltenen Bewegungen zu einem Zeremoniell machte.
    Die Blüte entfaltete sich weiter, und nach den Blättern sah er ihr Herz: als schmales, verwundbares Gesicht, fast so weiß wie das Kleid, das sie trug, und so zerbrechlich wie Porzellan. Und auch dieses Gesicht entsprach nicht dem Bild, das man sich im allgemeinen von einer Patientin in diesem Teil des Instituts machte. Es gab keine starren, in eine von namenlosem Schrecken erfüllte Unendlichkeit blickenden Augen, keine eingefallenen Wangen um einen zu einem stummen Schrei gerundeten Mund, ihre Züge waren nicht erschlafft. Allenfalls, daß ihr Gesicht eine unnatürliche Blässe zeigte. Aber selbst das hatte einen ganz banalen Grund - sie hatte diesen Raum seit sechs Jahren kaum verlassen. Das einzige Licht, das sie kannte, war das der winzigen Halogenscheinwerfer in der gemauerten Decke ihrer Welt. Claudia war sehr schön. Sie war es schon als Kind gewesen, als sie hierhergekommen war; nicht mehr ganz Mädchen, aber noch lange keine Frau. Und jetzt - noch nicht ganz Frau, aber schon lange kein Mädchen mehr - war sie es noch viel mehr.
    Artner blieb einige Sekunden unter der Tür stehen, während Claudia ihn aufmerksam musterte. Nicht mit dem leeren Blick einer Idiotin, sondern offen, neugierig und über r ascht und auch ein ganz kleines bißchen mißtrauisch. Und zugleich auch sehr freundlich. Sie sah ihn immer auf die gleiche Art an, wenn er hereinkam, denn obwohl er sie fast täglich besuchte, war er doch jedesmal ein Fremder für sie.
    Claudias Gedächtnis hatte vor sechs Jahren aufgehört, neue Informationen aufzunehmen. Sie lebte in einem ständigen Jetzt, das sich mit jedem Tag um weitere vierundzwanzig Stunden von der Gegenwart entfernte.
    »Hallo«, sagte er.
    Das Mädchen legte lauschend den Kopf auf die Seite und schien über das Wort nachzudenken, dann sagte auch sie: »Hallo.«
    Artner lächelte. Heute war ein guter Tag. Es gelang ihm nicht immer, ihr Vertrauen zu erringen. Heute mochte sie den Fremden, der ihre Zelle betreten hatte. Aber das war längst nicht immer so. An manchen Tagen war ihr Mißtrauen stärker als ihre natürliche Offenheit, so daß sie nur einsilbig auf seine Fragen antwortete oder auch gar nicht mit ihm redete. Vorsichtig, um sie nicht durch eine unbedachte Bewegung zu er schrecken, ging er zum Bett und ließ sich auf der Kante nieder; nahe genug, um Vertrauen zu signalisieren, aber nicht so nahe, daß er ihre Sicherheitsdistanz unterschritten hätte.
    »Wie fühlst du dich?« fragte er.
    »Gut. Danke. Wer... sind Sie?«
    »Ein Freund«, antwortete Artn er, und dann, nach einem kurzen, letzten Zögern, fügte er hinzu: »Erinnerst du dich an mich?« Er stellte diese Frage nicht immer, denn manchmal reichte sie allein aus, alles zu zerstören. Das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen war wie ein filigranes Gespinst, das jeden Tag aus einem anderen Material zu bestehen schien: mal aus massivem Stahl, so daß nichts es erschüttern konnte, manchmal aber auch aus feinster Gaze, die schon unter der geringsten Belastung zerriß. Auch wenn ihr Gedächtnis nicht funktionierte, so schien doch allein der Versuch sich zu erinnern, etwas in ihr auszulösen. Und nur in den allerseltensten Fällen war es etwas Gutes .
    Aber heute war wirklich ein guter Tag. Claudia schüttelte nur den Kopf und fragte: »Sollte ich das?«
    »Nein«, antwortete Artner lächelnd. »Es ist nicht wichtig. Ich bin nur gekommen, um mich ein bißchen mit dir zu unterhalten. Wenn du möchtest, heißt das.«
    »Unterhalten? Gern. Aber worüber?«
    Das war nun wirklich etwas Besonderes. Claudia entwickelte selten irgendeine Initiative. In diesem Punkt ähnelte sie tatsächlich der Blume, mit der er sie manchmal verglich: Sie konnte unter bestimmten Umständen reagieren aber so gut wie niemals agieren. Um so mehr überraschte ihn nun diese Frage. Zugleich erfüllte sie ihn mit einer jähen Hoffnung, einer Hoffnung, die er sich im Grunde vor Jahren schon selbst verboten hatte.
    Artner rief sich innerlich zur Ordnung. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, an Wunder zu glauben, und würde jetzt bestimmt nicht wieder damit anfangen, nur weil es so schön gewesen wäre. Diese Frage war kein erster Schritt, sondern ein Zufall. Eine Bedeutungslosigkeit, in die er etwas
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