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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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lag und zum Aufzug führte.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch nickte Artner flüchtig zu und machte eine Notiz in irgendeiner Liste, die vor ihm lag und vermutlich vollkommen zwecklos war. Artner wußte, daß er den Großteil seiner Schicht damit zu verbringen pflegte, zweitklassige Kriminalromane zu lesen, und die Sicherheitstechnik, die sie für Unsummen hatten installieren lassen, vornehmlich nutzte, sich selbst zu bewachen und den mit etwas furchtbar Wichtigem Beschäftigten zu spielen, sobald jemand den Lift verließ und hereinkam. Artner war es gleich. Solange er seine Arbeit tat und die Patienten in den sechs belegten Zellen im Auge behielt, konnte er seinetwegen tun und lassen, was er wollte. Trotzdem, dachte er, irgendwann einmal würde er sich einfach den Spaß machen und ihm eines der Bänder vorspielen, die die versteckte Kamera aufnahm, die ihn überwachte.
    »Alles in Ordnung?« Es war keine Frage, auf die er eine Antwort erwartete - wäre nicht alles in Ordnung gewesen, dann wäre er jetzt nicht hier, wenigstens nicht allein.
    Der Mann nickte auch nur, aber nach einigen Sekunden fiel ihm dann doch ein, was Artner wirklich meinte. Hastig legte er seinen Stift aus der Hand, bequemte sich endlich, seinen Blick ganz von seiner Liste und dem vermutlich darunter versteckten Jerry-Cotton-Roman zu lösen, und sah zu Artner hoch. »Zelle fünf, nehme ich an?«
    Artner nickte mit unbewegtem Gesicht und verkniff sich die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«
    »Nicht während meiner Schicht. Ich bin seit -«, er schob den Ärmel seiner weißen Pflegeruniform hoch und sah mit angestrengter Miene auf die Armbanduhr, als hätte er nicht schon seit Beginn seiner Schicht die Minuten gezählt, die er n och bis zum Feierabend durchstehen mußte, »- knapp sechs Stunden hier. Seitdem hat sie sich nur einmal gerührt, um aufs Klo zu gehen, danach ist sie wieder zur Salzsäule erstarrt. Soll ich aufmachen?«
    Artner sagte auch jetzt nichts, sondern beließ es wieder bei einem stummen Nicken. Die anzügliche Art des Burschen ging ihm auf die Nerven, schon seit einer ganzen Weile, aber heute besonders. Aber es lohnte sich nicht, Energie darauf zu verschwenden, ihn in seine Schranken zu verweisen. Der Mann war nicht besonders intelligent, was wohl auch der Grund war, weswegen er hier unten saß und nichts anderes zu tun hatte, als sechs postkartengroße Bildschirme im Auge zu behalten und FBI-Romane zu lesen. Artner war dieser Umstand sehr recht.
    »Ja«, sagte er im Hinausgehen, »und schalten Sie das Mikrophon ab.«
    »Wie üblich, Doc«, antwortete der Mann, und wie auch sonst immer fügte er hinzu: »Okidoki.«
    Artner verdrehte im stillen die Augen und schwieg weiter. Er wußte, daß er das Mikrophon nicht abschalten würde, ebensowenig wie die Kamera, die die Zelle vierundzwanzig Stunden am Tag überwachte, aber das spielte keine Rolle - Artner besaß einen Schlüssel für den Raum, in dem die Bänder verwahrt wurden, und würde die Kassette später austauschen, wenn es nötig war.
    Vor der letzten Tür auf der linken Seite des Ganges blieb er stehen und wartete, bis sich das leise Summen von vorhin wiederholte. Diesmal schwang die Tür nicht von selbst auf. Er mußte einen Schlüssel aus der Tasche nehmen - einen von sechs verschiedenen, für jede dieser Türen - und im Schloß herumdrehen. Und er behielt den kleinen Monitor in der Wand vor sich dabei aufmerksam im Auge. Die Gestalt, die zusammengerollt wie ein zu großer Fötus auf dem Bett lag, regte sich nicht. Weder als er das Schloß entriegelte, noch als er die Tür öffnete und eintrat. Erst als er die Tür wieder hinter sich zuschob und das charakteristische leise Metallklicken zum zweiten Mal erscholl, regte sich der weiße Schemen auf weißem Grund; eine fließende Bewegung, die immer gleich war und Artner immer aufs neue faszinierte, denn mehr als alles andere erinnerte sie ihn an eine sich öffnende Blüte – ein weißer Kelch, der auf sein Er scheinen wie auf die ersten war men Strahlen der Sonne reagierte und sich dem Licht zuwandte. Nichts an dieser Bewegung war irgendwie plump oder derb. Claudia ging jene kraftvolle Unbeholfenheit der Bewegungen völlig ab, die die meisten Menschen bei bestimmten Geisteskranken unbewußt abstößt und die wohl zu einem guten Teil der Grund sind, weswegen sie Behinderten so befangen gegenübertreten. Ihre Bewegungen waren im Gegenteil von einer fließenden Eleganz,
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