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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erschrocken herumgedreht, aber er unterdrückte den Impuls im letzten Moment. Da war nichts. Da konnte nichts sein. Die Tür ließ sich nur mit dem Schlüssel öffnen, den er in der Tasche hatte - sowohl von dieser als auch von der anderen Seite.
    »Er ist da«, sagte Claudia noch einmal. »Das reicht. Er muß nicht viel sagen. Er hatte versprochen, daß er kommen würde, damals, als sie... als sie mich hergebracht haben. Damals hat er es mir versprochen, und ich wußte, daß er sein Versprechen e inhält. Deshalb habe ich nicht mit euch geredet. Ich durfte es nicht.«
    »Warum?« fragte Artner. »Hat er es dir verboten? Und du hast dich all die Jahre daran gehalten? Die ganze Zeit?«
    »Es war sehr lange«, bestätigte Claudia. »Aber ich wußte ja, daß er kommt. Er lügt nie. Das kann er gar nicht.«
    Der Ballon wurde weiter zusammengedrückt. Das stumpfe Gummigeräusch nahm an Intensität zu. Es war ein sehr unangenehmer Laut, der den Effekt von Fingernägeln auf einer Schiefertafel oder einer Gabel auf einem Topfboden hatte. Artner spürte ein unbehagliches Kribbeln, das sein Rückgrat hinunterlief. Etwas wie unsichtbare Finger schien seine Kehle zu berühren - nicht, um ihn zu ersticken, aber um ihm das Atmen schwieriger zu machen. Und pl ötzlich hatte er das ganz inten sive Gefühl, daß da tatsächlich etwas war. Er gestattete sich nicht, diesem Gefühl nachzugeben. Ebensowenig wie er dem Impuls nachgab, sich doch herumzudrehen. Das Phänomen war ihm bekannt, auch wenn er es noch nie am eigenen Leibe erlebt hatte. Claudia wäre nicht die erste Patientin, die über eine erstaunliche Suggestivkraft verfügte, und er wäre nicht der erste Arzt, der ihr erlag. Schließlich war er ihr schon einmal erlegen, wenn auch in vollkommen anderer Hinsicht.
    »Es war in der Tat eine sehr lange Zeit«, sagte er. »Ich habe dir wirklich geglaubt, weißt du? Und die anderen auch. Wir dachten, du könntest dich an nichts erinnern.«
    Ein deutlicher Ausdruck von Trauer erschien in Claudias Augen. »Ich durfte nichts verraten«, sagte sie. »Ich glaube, ich... ich hätte es dir auch jetzt nicht sagen sollen. Vielleicht war es ein Fehler. Er wird vielleicht zornig.«
    »Und dann wird er dir etwas tun?« vermutete Artner.
    »Nein. Aber ich habe Angst, daß er dir etwas tut. Ich... ich weiß, daß du mein Freund bist, und was... wir getan haben, das war sehr schön. Aber er sagt, daß es nicht gut war. Er ist zornig auf dich, und er will dich bestrafen.«
    »Und wie?« fragte Artner. Das Geräusch war immer noch da. Etwas leiser jetzt, dafür aber auch deutlicher. Etwas war hier. Verdammt, es konnte nicht sein, und er würde sich einfach nicht erlauben, ausgerechnet in diesem Moment hyste r isch zu werden, aber er hatte das immer deutlichere Gefühl, daß jemand - etwas - den Raum betreten hatte. Verrückt, völlig verrückt. Dabei sollte er doch der Normale hier sein!
    »Geh jetzt«, sagte Claudia plötzlich. »Geh schnell. Er ist sehr wütend.«
    »Auf mich?« fragte Artner.
    »Ja, aber er kann dir nichts tun, solange du ihn nicht ansiehst. Dreh dich nicht herum. Bitte!«
    »Er wird mir nichts antun«, sagte Armer ruhig - sehr viel ruhiger, als er in Wirklichkeit war. Er hatte die Hände fest gegen die Oberschenkel gepreßt, damit sie nicht zitterten, und es fiel ihm immer schwerer, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Aber es war sehr wichtig, daß er jetzt Stärke zeigte. Wichtig für sie und... ja, und wohl auch für ihn. Arzt dachte er, heile dich selbst!
    »Und er wird auch dir nichts tun«, fuhr er fort, mit leiser, aber sehr fester Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben. Solange ich in deiner Nähe bin, kann dir nichts geschehen. Ich werde es dir beweisen.«
    »Nein!« Claudia schrie fast. Sie hatte die Hände halb erhoben, wie um sie vor das Gesicht zu schlagen, die Bewegung aber nicht zu Ende geführt. »Nicht! Sieh ihn nicht an! Sie ihn nicht an! «
    Es war zu spät. Artner lächelte noch einmal das zuversichtlichste Lächeln, das er zustande bringen konnte, und drehte sich dann zur Tür - nicht nur, weil er es Claudia schuldig war, um das Versprechen auf Schutz einzulösen, das er ihr gegeben hatte, sondern auch, und vielleicht sehr viel mehr, weil er sich selbst beweisen mußte, daß er so stark war, wie er tat.
    Er war es nicht. Artner saß einfach da und starrte die Tür an, und während er es tat, für die unendliche Dauer einer geschlagenen Minute, war sein Kopf wie leergefegt. Er empfand nichts. Keine
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